Der Amsterdamer Mehmet Demir musste ein Jahr lang warten, bis er mit seinem Leistenbruch von einem Facharzt behandelt wurde. Als er dann hörte, er müsse noch einmal drei Monate warten, bis er operiert werden könne, flog er kurzerhand nach Istanbul. Seine Versicherung zahlte die Operation. Ein typischer Fall: Viele Holländer lassen sich im Ausland behandeln. Allein die Krankenkasse CZ hat fast 10.000 Versicherte, die jährlich in belgischen oder deutschen Krankenhäusern aufgenommen werden, weil es dort kaum Wartzeiten gibt. Allerdings hat sich die Zahl der Niederländer, die sich im Ausland behandeln lassen, inzwischen stabilisiert - seit Jahresanfang leben die Niederlande im Zeitalter der Gesundheitsreform. Das Gesundheitswesen gehorcht jetzt den Regeln des Marktes und ein Ergebnis davon ist, dass die Kliniken konkurrieren und sich so die Wartezeiten verkürzen. Dem Reformprojekt war eine 20 Jahre währende Debatte vorausgegangen.
Das primäre Anliegen dieser größten Sozialreform der vergangenen 60 Jahre war es, die Kosten eines Gesundheitswesens zu dämpfen, das zuletzt für 16 Millionen Niederländer jährlich etwa 43 Milliarden Euro verschlang. Damit war es sehr viel kostspieliger als die Systeme anderer Industrieländer. Bis zum letzten Moment hatten sich vor allem Ärzte und fast alle Niederländer - sie fürchteten höhere Beiträge und amerikanische Zustände - massiv gegen die Reform gewehrt. Nach elf Monaten kann eine vorläufige Bilanz gezogen werden: Das erwartete Chaos bei der Umstellung ist ausgeblieben und der Wettbewerb scheint zu funktionieren. Die niedergelassenen Ärzte, die ihre Praxis jetzt wie einen Wirtschaftsbetrieb führen müssen, verdienen zwar mehr, beklagen sich aber über bürokratischen Mehraufwand.
Das Herzstück der Reform: Das Nebeneinander von privater und gesetzlicher Krankenkasse wurde durch eine gesetzliche Pflichtversicherung für alle Holländer ersetzt, mit freier Wahl der Krankenkassen. Im Prinzip gilt dies auch für die Wahl des Arztes. Bisher konnten Patienten nur nach einem umständlichen Verfahren ihren Hausarzt wechseln. Die Versicherten müssen nun eine Versicherung mit einem Basispaket an Leistungen abschließen, sie können sich allerdings zusätzlich für zahnärztliche oder orthopädische Leistungen versichern. Die Philosophie der Konkurrenz soll den Wettbewerb unter den Kliniken fördern. Zudem gibt es einen Krankenversicherungsfonds, der die der Krankenversicherung zur Verfügung stehenden Finanzmittel verwaltet. Mit der Einrichtung des Fonds soll erreicht werden, dass die bisherige Gesundheitsfürsorge besser funktioniert als in der Vergangenheit, sie effizienter und billiger wird und die traditionell langen Wartezeiten abgebaut werden. Bis zu zehn Wochen mussten Patienten im Schnitt auf eine Leistenbruchoperation warten, bis zu 16 Wochen auf eine Kniegelenkspiegelung. "Diese Wartezeiten sind spektakulär rückläufig", so der Rat für Volksgesundheit.
Der holländische Staat regelt nun nicht mehr alles, aber er hat Sicherungen eingebaut: So müssen die sozialen Einrichtungen und Krankenhäuser für alle Bürger zugänglich, bezahlbar und gut sein. Gesetzlich geregelt ist, dass die Krankenversicherer jeden Kunden akzeptieren müssen - ungeachtet seines Alters, Geschlechts oder seines Gesundheitszustandes. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre sind gratis versichert. Die meisten Niederländer müssen für ihre Prämien deutlich tiefer in die Tasche greifen. Sie zahlen eine pauschale Prämie zwischen 990 und 1.106 Euro jährlich, damit sind die Beiträge rund dreimal so hoch wie vor der Reform. Allerdings steuert der Arbeitgeber einen Anteil in Höhe von 6,2 Prozent des Gehalts bei. Wer die Prämien nicht bezahlen kann, erhält Kompensationszahlungen, die auf etwa drei Milliarden Euro veranschlagt werden. Allein die bürokratischen Aufwendungen für die Kompensationszahlungen werden auf mindestens 72 Millionen Euro geschätzt. Kritiker glauben, die Reform werde so zu einer Umschichtung von Steuergeldern führen.
Gewinneinbußen beklagen vor allem die Apotheker. Dazu trägt bei, dass die Ärzte als nicht verschreibungsfreudig gelten. Niederländer geben jährlich nur 16 Euro für Arzneimittel aus, die von den Krankenversicherungen nicht erstattet werden. Die verschreibungspflichtigen Medikamente eingerechnet sind es 275 Euro.
Einige Versicherer haben bereits angekündigt, 2007 die Prämien um etwa zwölf Prozent zu erhöhen. Achmea, mit 3,5 Millionen Kunden die größte Krankenkasse, rechnet damit, rund 1.200 Angestellte entlassen zu müssen. Krankenkassen und Versicherer glauben, dass es noch zwei bis drei Jahre dauern werde, bis die Reform störungsfrei arbeitet.
Der Autor ist Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" in Amsterdam.