Als an diesem Dienstag gegen 19 Uhr die letzte Patientin die Praxis von Laurent Dukas (41) verlässt, ist für den Basler Hausarzt noch lange nicht Feierabend: Dann setzt sich Dukas für einige Stunden hinter seinen Schreibtisch und müht sich mit Formalitäten ab - für den Mediziner der unangenehme Teil seiner Arbeit, der in den vergangenen Jahren aber kontinuierlich zugenommen hat. Die Forderung nach mehr Effizienz und Wirtschaftlichkeit spüren die Ärzte gleich von zwei Seiten: Einerseits verlangen Patientinnen und Patienten stets schnellere und stets umfangreichere medizinische Leistungen. Gleichzeitig geben die Krankenversicherungen den wachsenden Kostendruck immer erbarmungsloser an die Patienten weiter - zu Lasten auch wirklich Kranker. Sogar bewährte und dringend notwendige Behandlungen von chronisch kranken Patienten würden inzwischen von den Krankenversicherern regelmäßig in Frage gestellt, klagt Dukas, was die ärztliche Freiheit einschränke und zu einer dramatischen Zunahme von Papierkram beitragen habe.
Als "Halbgötter in Weiss" sehen sich Schweizer Hausärzte schon lange nicht mehr, doch jetzt steht zunehmend ihre Rolle als Partner des Patienten zur Debatte. Schleichend verkommt, wie Ärzte beklagen, die Medizin zum reinen Dienstleistungsbetrieb. Die Politik beginnt ihrerseits damit, mit Tarifkürzungen oder Zulassungsstopps für neue Praxen den Druck auf niedergelassene Ärzte zu erhöhen. Noch stehen Schweizer Ärzte besser da als ihre Berufskollegen in Deutschland, doch die Anzeichen für eine unmittelbar bevorstehende Umstrukturierung der Ärztelandschaft mehren sich: Erstmals in ihrer Geschichte versammelten sich im Frühjahr Hausärzte zu einer nationalen Demonstration vor dem Parlament in Bern - ein Bild, das man bis dahin nur von unzufriedenen Gewerkschaften und Bauern kannte.
Nach Ansicht von Laurent Dukas werden die Hausarztpraxen immer mehr zu reinen Werkstätten für defektes Patientengut: "Es muss alles schnell gehen, und es darf nichts kosten. Aus meiner Sicht als Hausarzt ist es kein Wunder, dass die Gesellschaft unter diesen Umständen immer kränker wird. Solange in der Medizin Wirtschaftlichkeit überproportional bewertet wird und die zeitlichen Ressourcen fehlen, um den Menschen als Ganzes beurteilen und behandeln zu können, werden die Gesundheitskosten nicht sinken. Es braucht ein neues Selbstbewusstsein der Ärzte und mehr Eigenverantwortung der Patienten." Die Schweiz hat eines der besten Gesundheitssysteme der Welt: Jeder Schweizer ist einer von rund 80 konkurrierenden Krankenversicherungen angeschlossen, die Behandlungen aus einem standardisierten, aber überaus großzügigen Leistungskatalog zu übernehmen haben. Selbst die Akupunktur - im Unterschied zu Deutschland nicht aber die Zahnmedizin - ist obligatorisch abgedeckt.
Schweizerinnen und Schweizer dürfen ihre Ärzte frei wählen, die Praxis so oft aufsuchen, wie sie es für richtig halten. Sie können ohne vorherige Konsultation zum Spezialisten. Die Wartezeiten sind kurz, die Zahl der Ärzte nimmt seit Jahren zu. Es ist Patienten im Prinzip sogar erlaubt, den Arzt so oft zu wechseln, bis ihnen die gewünschte Behandlung verschrieben wird. Nur ein nach oben begrenzter Teil der Behandlungskosten muss von den Patienten übernommen werden. Alle Ärzte, auch teure Spezialisten, haben ihrerseits einen rechtlichen Anspruch auf einen Vertrag mit jeder der rund 80 obligatorischen Krankenversicherungen. Sie dürfen grundsätzlich alle Leistungen verschreiben, die sie für richtig halten. Dieser Mechanismus hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass immer mehr Ärzte immer mehr Leistungen verschreiben. Im Krankenhausbereich verhält es sich ähnlich: Anreize, die dazu beitragen, dass Ressourcen sparsam eingesetzt werden, fehlen weitgehend.
Deshalb hat die Schweiz nicht nur eines der besten Gesundheitssysteme der Welt, sondern auch das zweitteuerste, wie die OECD unlängst in einem Bericht festhielt. Die Schweizer sind mit ihrem Gesundheitssystem zwar zufrieden, doch weil die Krankenkassenprämien seit Jahren weit stärker steigen als die Teuerung, kann mittlerweile rund ein Drittel der Bevölkerung die Prämien nur noch mit staatlicher Unterstützung bezahlen. So scheint es bloß eine Frage der Zeit, bis das Versorgungsnetz gestrafft und der Leistungskatalog gekürzt wird: Der Streit darüber, wie viele Ärzte es in der Schweiz braucht und inwiefern sie sich den Erfordernissen der Wirtschaftlichkeit zu unterwerfen haben, gehört zu den am heftigsten geführten in der eidgenössischen Politik. Über kaum ein Thema mussten die Schweizer so häufig an den Urnen abstimmen wie über die Gesundheitspolitik. Auch Dukas weiß, dass in Zukunft Einsparungen notwendig sind. "Wir müssen in der Tat vermehrt darauf achten, nur noch Leistungen zu verordnen, die absolut nötig sind", sagt Dukas. "Diese Einstellung hat sich unter den Ärzten noch zu wenig durchgesetzt, und sie wird deshalb auch zu wenig an die Patienten weitergegeben."
Wohin die Diskussion führt, ist offen. Im Moment häufen sich die Anzeichen für einen bevorstehenden Mangel an Hausärzten. Auch eine Folge, dass Ärzte als Spezialisten mehr verdienen und überdies ein höheres Ansehen genießen. Manche Gesundheitsökonomen sind der Ansicht, dass die Hausärzte, die nur zu einem relativ kleinen Teil für die Kostensteigerungen verantwortlich sind, von mehr Wettbewerb profitieren und sich von ihren spezialisierten Kollegen besser abgrenzen könnten. Doch die Stimmung unter den Ärzten ist schlecht - und solange sich der Wunsch nach mehr Effizienz vor allem darin zeigt, dass sich Doktor Dukas nach Feierabend eine Stunde mit Formalitäten abmühen muss, bleibt sein Reformeifer begrenzt.
Der Autor ist Redakteur der "Neuen Zürcher Zeitung".