Richard wartet seit zwei Stunden. Er starrt auf die Ansagen, die unablässig über die Leuchttafel flackern. "Willkommen in der C Rezeption", "Heute Kardiovaskuläre Klinik, Professor Kumar", "Rauchen und Essen sind im Wartebereich verboten". Die Stühle sind unbequem, in zu engen Reihen fest in den Boden montiert. Es gibt vier solche Wartehallen in der Ambulanz des Londoner Hammersmith Hospitals.
Vor 16 Monaten meldete sich der 52-jährige Kameramann mit Herzbeschwerden bei seinem Allgemeinarzt. Dank eines neuen "National Health Service (NHS) Herzprogramms" war er drei Tage später schon in der "Chest Pain Clinic" des Londoner Krankenhauses. Nach unauffälligem Belastungs-EKG wurde eine Herzkathederuntersuchung beschlossen. Richard wartete fünf Monate darauf - die maximale Wartezeit für "nicht dringende Fälle". Weitere zwei Monate dauerte es, bis er einen Besprechungstermin mit einem Arzt hatte. Auf ein Echokardiogramm wartete er drei Monate - und zwei auf den Arzttermin. Jetzt hält Richard den Ausdruck eines 24-Stunden-Blutdruckmonitors in der Hand. Wieder nach monatelangem Warten. Es gibt im britischen System kein Netzwerk von Fachärzten, dem sich Patienten wie Richard anvertrauen könnten: Wenn mehr als eine Blutprobe oder eine Impfung gefordert ist, muss der Brite ins Räderwerk eines großen Krankenhauses.
81 Prozent der Briten sind dennoch mit ihrer Krankenhausbehandlung, 83 Prozent mit ihrem Allgemeinarzt zufrieden. Gesundheitsministerin Patricia Hewitt wertet das als Zeichen der "enormen Verbesserungen" im staatlichen Gesundheitsdienst NHS. Richard ist sich nicht sicher, ob er zufrieden ist. "Gegen die Behandlung kann ich nichts sagen. Aber es geht alles so langsam. Und ich weiß nie, wie die vielen Ärzte heißen, die sich über meine Akte beugen."
"24 Stunden Zeit, den NHS zu retten", lautete der Wahlslogan der Labourpartei vor der Unterhauswahl 1997. Blair machte sein Versprechen wahr, die britischen Gesundheitsaufwendungen auf das europäische Durchschnittsniveau zu bringen. Das Budget des staatlichen Gesundheitsdienstes wurde von 34 Milliarden Pfund 1997 auf zurzeit fast 80 Milliarden mehr als verdoppelt. Aber der Glaube, dass es dem NHS vor allem am Geld fehlte, hat sich als falsch erwiesen. Vom Wasserwerk bis zum Flugverkehr haben die Briten ihre öffentlichen Dienste privatisiert und dabei auf Angebotsvielfalt und Wettbewerb gesetzt. Nur beim NHS gilt unerschütterlich das Angebotsmanagement des Staatsmonopolisten. Während andere staatliche Dienste verschlankt wurden, bleibt der NHS der größte Arbeitgeber der Welt nach der indischen Eisenbahn.
1,3 Millionen Mitarbeiter und ein Jahresbudget, das manchem Staat Ehre machen würde. Nicht die Bedürfnisse der Patienten, sondern die Zielvorgaben der Gesundheitsbürokratie geben den Ton an. Herz- und Krebsvorsorge haben sich verbessert, weil die Regierung Schwerpunktprogramme auflegte. Schlaganfälle waren keine Priorität. Hier gab es zwischen 1999 und 2003 keinerlei Verbesserungen, und die Sterblichkeit ist doppelt so hoch wie in der Schweiz oder den USA.
Die Briten lieben ihren NHS. Sie hatten nie staatlich-öffentliche Krankenkassen wie in Deutschland. Die Gründung des NHS nach dem Krieg war die große soziale Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Auch die Konservativen haben eingesehen, dass es zum NHS keine politisch durchsetzbare Alternative gibt. Keine Partei kann eine Wahl gewinnen, ohne das NHS- Mantra zu schwören: "Ärztliche Versorgung auf der Basis der Bedürftigkeit, nicht der Fähigkeit zu bezahlen, kostenlos am Punkt der Nutzung." Kaum ein Brite, der nicht eine Klagegeschichte über den NHS hat, kaum einer, der medizinische Versorgung nicht wie ein beglückendes Geschenk hinnimmt, meist ohne Kritik. Ein zwiespältiges Bild, das sich auch in den Vergleichstabellen der Weltgesundheitsorganisation spiegelt: In puncto finanzielle Fairness steht der NHS ganz oben, bei Flexibilität und Reaktionsschnelligkeit weit unten. Der NHS ist der große Gleichmacher im klassenbewussten Großbritannien. Briten leben in einer Konsumgesellschaft, die von Wettbewerb und Wahlmöglichkeiten geprägt ist. Aber hier sind sie Empfänger einer staatlichen Zuteilungswirtschaft. "Im Gesundheitsdienst werden die Menschen als passive Untertanen statt als aktive Bürger behandelt", beschreibt der New Labour Theoretiker Anthony Giddens den Widerspruch. 2002 ließ Schatzkanzler Gordon Brown von dem ehemaligen Banker Derek Wanless eine Systemanalyse des NHS durchführen. Wanless kam zum Schluss, dass Großbritannien zwar seine finanziellen Anstrengungen im Gesundheitsbereich drastisch erhöhen müsse, am Prinzip limitierter Konsum- und Wahlfreiheit wollte er aber nicht rütteln: Freie Arzt- oder Krankenhauswahl bedeutet Überschusskapazitäten, und die sind zu teuer.
Gesundheitsreformen in Deutschland kämpfen mit der teureren Wahlfreiheit. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt zeigt, wenigstens bei Reden in England, Bewunderung für das englische System und denkt da- rüber nach, "ob ein marktorientiertes Gesundheitssystem wirklich nachhaltig sein kann". Marktmechanismen, Patientenbedürfnisse, Nachfragesteuerung sind nicht nur Kos- tenfaktoren. Sie sind auch Mechanismen, den Dienst flexibel und effizient zu machen. Die Geldmittel, die Labour in den NHS lenkte, haben keine proportionalen Leistungsverbesserungen gebracht, "sie haben nur die Maschine NHS schneller laufen lassen", meint der Gesundheitskorrespondent der "Times", Nigel Hawkes.
Nun suchen Labour und die Konservativen verzweifelt nach Möglichkeiten, die Maschine NHS nicht nur schneller, sondern auch sparsamer, effizienter und patientenfreundlicher zu machen. Zehn Jahre nach Labours Amtsantritt bestimmen Stichworte wie Dezentralisierung, Alternative Leistungsträger, Wettbewerb der Anbieter die Reformdebatte. Doch wenn Blair für die Rechte des Privatsektors eintritt, bessere Gesundheitsleistungen anzubieten - als Ergänzung oder in Konkurrenz mit dem NHS - sprechen die Gewerkschaften von "Privatisierung" des NHS und drohen mit Streik. "Widersprüchliche Reformen in atemberaubender Geschwindigkeit" prägen den Alltag des NHS seit fast zwei Jahrzehnten.
Die jüngste Initiative von Gesundheitsministerin Patricia Hewitt sieht vor, dass nach Jahren der Leistungskonzentration auf große Krankenhäuser die Arztpraxen wieder gestärkt werden: Ärzte sollen Kleinoperationen wie die Verödung von Krampfadern selber vornehmen. Richard lacht, als er das hört. "Als mein Arzt kürzlich meinen Cholesterinspiegel überprüfen wollte, musste ich für die Blutabnahme extra am Samstag in die Praxis kommen. Blut wird nur samstags abgenommen."
Der Autor ist Korrespondent der Zeitung "Der Tagesspiegel" in London.