Wie mein typischer Tag hier aussieht? Das willst Du nicht wissen...", lacht Barbro Lönnberg. Die medizinisch verantwortliche Oberärztin an der gynäkologischen Abteilung der Frauenklinik ist ab halb acht auf ihrer Station und verlässt das Universitätskrankenhaus Linköping selten vor sieben Uhr abends. Morgens geht sie erst zur Visite, dann in den Operationssaal. Die Frauenklinik ist auf komplizierte Krebsoperationen spezialisiert; pro Woche finden 15 bis 20 Eingriffe statt. Fürs Mittagessen hat Barbro Lönnberg selten Zeit. Es stehen Besuche auf der Station an und immer wieder frustrierende Papierarbeit: Journalführung und Statistiken absorbieren viel Zeit. Die Oberärztin schätzt, dass sie nur ein Viertel ihrer Zeit mit patientennaher Arbeit verbringt. An Assistenzärzten und Sekretärinnen mangelt es, und die Ärzte müssen sogar manche Reinigungsarbeiten selbst ausführen.
Die gynäkologische Abteilung verfügt über 17 Betten - mehr als ein Drittel weniger als zu Beginn der 90er-Jahre. Diese kräftige Reduktion ist typisch für das schwedische Gesundheitswesen, das im Zuge der Finanzkrise auf die Sparbremse treten musste. Die Zahl der Krankenhausbetten schrumpfte zwischen 1993 und 2004 um fast 60 Prozent. Der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt belief sich 1998 auf rekordverdächtige 7,9 Prozent. Mittlerweile sind die Kosten wieder auf 9,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (2003) gestiegen, der höchste Stand seit 40 Jahren. Trotz des Spardrucks gilt das Leistungsniveau als hoch. Die OECD lobte 2005 die "hohe Qualität des mit relativ vielen Mitteln" ausgestatteten Gesundheitssystems.
Nicht alle können jedoch gleichermaßen davon profitieren: Notfälle und Schwerkranke, die einmal im System sind, befinden sich meist in besten Händen. Praktisch jeder hier kennt aber Geschichten von Menschen, die sehr lange auf eine Behandlung warten mussten. Kranke müssen hierzulande gesund genug sein, um für ihre Rechte zu kämpfen. Weniger Betten und weniger Ärzte (mit im europäischen Vergleich eher kurzen Arbeitszeiten) bei steigender Nachfrage nach Leistungen schaffen Flaschenhälse.
Das Gesundheitssystem in Schweden ist zu 70 Prozent durch regionale Steuern finanziert. Staatsbeiträge decken ein weiteres Fünftel der Kosten, während die Gebühren der Patienten nur drei Prozent beisteuern. Private Krankenversicherungen existieren kaum. Alle Bürger haben Anrecht auf dieselben Leistungen. Zumindest theoretisch. In der Praxis stößt die Gleichheit oft an ihre Grenzen: Jüngst etwa sorgte ein Bericht des Krebsfonds für Schlagzeilen, wonach die Überlebenschancen von Krebskranken von deren Wohnort abhängig sei. In gewissen Regionen müssen Patienten wegen des Mangels an Personal und Infrastruktur monatelang auf eine Diagnose, auf einen Termin beim Spezialisten oder auf eine Strahlentherapie warten, während andernorts die Geräte zur Bestrahlung unbenutzt dastehen. Auch in der Anwendung neuer Medikamente bestehen geografische Unterschiede.
Die Ursache dieser Ungleichbehandlung liegt in der dezentralen Struktur des schwedischen Gesundheitswesens. Für dessen Finanzierung und Planung sind die 21 Provinziallandtage zuständig, sie führen die Mehrheit der Krankenhäuser und beschließen den Einkauf von Leistungen bei Privatanbietern. Die Provinzen wiederum sind in sechs Krankenhausregionen mit je einem Universitätskrankenhaus zusammengeschlossen, das Ausbildung und Forschung betreibt und spezialisierte Leistungen anbietet. Erster Ansprechpartner sind jedoch die Gesundheitszentren und Hausarztpraxen in allen größeren Orten.
Eine Stärke dieses Systems ist seine Innovationskraft und Flexibilität. Gemäss OECD trägt die Dezentralisierung dazu bei, dass erfolgreiche "Experimente" anderer Regionen kopiert werden. Die Provinz Östergötland mit der Hauptstadt Linköping führte 2004 eine große Umorganisation durch; drohende rote Zahlen zwangen zu einem Angebotsabbau und zu Rationalisierungen. Zwischen den drei zuvor relativ unabhängigen Krankenhäusern der Region findet seither eine weitgehende Aufgabenteilung statt. Für die Patienten bedeutet dies eine kompetentere Betreuung dank der Spezialisierungen; eine negative Konsequenz sind längere Fahrtwege.
Östergötland zog zudem die Kostenbremse, indem eine Reihe nicht absolut notwendiger Behandlungen aus dem Leistungskatalog gestrichen wurden - eine Pioniertat in Schweden. Die offen deklarierte Wahl zwischen dem medizinisch Wünschbaren und dem finanziell Machbaren schlug hohe Wellen. Gemäß Prioritätenliste müssen zum Beispiel Sterilisierungen aus der eigenen Tasche bezahlt werden.
Während das Pflegepersonal viel Lob erntet, sind die Landespolitiker generell ein Dorn im Auge. Die Stufe zwischen Staat und Krankenpflege gilt als überflüssig. Dem entprechend ist Wahltag auch in Sachen Sachen Gesundheitspolitik Zahltag.
Um die langen Wartezeiten in vielen medizinischen Disziplinen in den Griff zu bekommen, wurde im November 2005 eine nationale Pflegegarantie eingeführt. Die primäre Krankenpflege muss Patienten sofort am Tag der Kontaktaufnahme Hilfe und innerhalb einer Woche einen Arztbesuch anbieten. Bei einer Überweisung an den Facharzt soll der Besuch innerhalb von drei Monaten stattfinden und eine Behandlung spätestens nach weiteren drei Monaten eingeleitet werden. An der Frauenklinik Linköping sind die Wartezeiten fast verschwunden. Dies ist aber weder der Reorganisation noch der Pflegegarantie zu verdanken, sondern dem zeitweiligen Zukauf von Leistungen einer Privatklinik, welche die Warteschlangen "wegoperierte".
In manchen Bereichen ist man dagegen noch weit entfernt von der Erfüllung der Pflegegarantie. Allein die Orthopädie kämpft landesweit mit riesigen Schlangen: Ende August warteten 21.000 Personen seit über drei Monaten auf einen Erstbesuch, über 5.200 Personen warten ebenso lange auf eine Behandlung. Sind die Schlangen in der eigenen Provinz zu lang, besteht ein Anspruch auf Behandlung in anderen Landesteilen. Im Internet sind die Wartezeiten sämtlicher Krankenhäuser ersichtlich. Seit 2004 muss der Staat zudem für Behandlungen in anderen EU-Ländern aufkommen, sofern diese auch in Schweden von der Krankenkasse gedeckt werden. Eine beliebte Destination dieses Krankentourismus ist Deutschland, wo sich die Schweden unter anderem gegen Schleudertraumen behandeln lassen.
Die Autorin ist Skandinavien-Korrespondentin der "Neuen Zürcher Zeitung".