Das Parlament: Herr Rosenbrock, ist die Gesundheitsreform ein großer Wurf oder nur gemeinsamer Nenner einer Koalition, die kaum Gemeinsamkeiten hat?
Rolf Rosenbrock: Die Reform ist der Kompromiss von zwei Partnern, die in den wesentlichen Richtungsentscheidungen nicht kompatibel sind. Die Frage, wie wir die Lücke zwischen beherrschbaren Ausgaben und sinkenden Einnahmen schließen können, wird nicht beantwortet. Wir haben ja in Deutschland entgegen landläufigen Vorurteilen keine Kostenexplosion. Der Ausgabenanteil für die gesetzliche Krankenversicherung am Bruttoinlandsprodukt ist seit 1980 stabil. Was wir haben, ist eine Einnahmenerosion, das heißt, beitragspflichtige Einnahmen pro Kopf wachsen sehr viel langsamer als das Bruttoinlandsprodukt. Hätten wir das gleiche Verhältnis wie 1980, läge der Beitragssatz nach wie vor bei 11,6 Prozent.
Das Parlament: Wäre nicht eine höhere Steuerfinanzierung sinnvoll?
Rolf Rosenbrock: Im Prinzip könnte man das System weiter voll über Beiträge laufen lassen. Dass dadurch die Lohnnebenkosten wesentlich oder gar bedrohlich steigen, ist durch viele Studien widerlegt. Der Einfluss der Beiträge ist marginal und im Portokassenbereich, wenn man sie mit anderen Größen der Unternehmen vergleicht - Stichwort: Ölpreise, Dollar-Wechselkurs. Grundsätzlich kann Steuerfinanzierung gerechter sein. Es kommt aber darauf an, woraus sich die Steuereinnahmen zusammensetzen. In Deutschland kommt der ganz überwiegende Anteil aus Lohn- und Mehrwertsteuer. Dass Steuerfinanzierung per se zu mehr sozialer Gerechtigkeit führen würde, wage ich deshalb zu bezweifeln.
Das Parlament: Experten vergleichen den Medizinsektor oft mit einer Krebszelle: Je erfolgreicher der Arzt oder die Pharmafirma, desto mehr zerstören sie das System. Wie kommt man aus diesem Dilemma?
Rolf Rosenbrock: Wir haben die Tendenz einer zunehmenden Medikalisierung sozialer Probleme. Viele die einsam sind und soziale Probleme haben, kommen zum Medizinsystem, obwohl sie da gar nicht hingehören. Hier müssten andere Auffangmöglichkeiten geschaffen werden. Eine Lösung könnte bei der Schnittstelle zwischen gesunder Lebenswelt und professionellem Krankenversorgungssystem liegen, also beim Hausarzt. Sein Zugriffsbereich müsste erweitert werden auf Selbsthilfeeinrichtungen, psychotherapeutische und pflegerische Unterstützung.
Das Parlament: Dann wäre er wirklich Lotse…
Rolf Rosenbrock: Genau, und zwar nicht nur in Richtung Facharzt, Klinik, Rehabilitation. Er müsste auch dazu beitragen, dass soziale Probleme nicht als gesundheitliche Probleme behandelt werden. Ansons- ten liegt viel bei den Anreizsystemen: Über Jahrzehnte wurden die Ärzte in Deutschland über Einzelleistungen honoriert - was ja extrem dazu verführt, mehr zu machen als nötig. Inzwischen sind wir gottlob mehr zu Pauschalvergütungen und Mischsystemen gekommen. Bei entsprechender Qualitätssicherung könnte man sich auch überlegen, Ärzte nach Zeitaufwand zu entlohnen.
Das Parlament: Wie lässt sich denn der medizinisch-industrielle Komplex, an dem auch viele Arbeitsplätze hängen, bremsen?
Rolf Rosenbrock: Das Problem ist, dass wir in der Gesundheitswirtschaft nicht dem Ziel der Gewinnmaximierung zu folgen haben, sondern den Kriterien Bedarf und Kostenminimierung. Es gibt keinen Wunderschlüssel, um die Wachstums- und Expansionsdynamik des medizinisch-industriellen Komplexes zu bremsen. Aber bei Arzneimitteln sind Kosten-Nutzen-Analysen und direkte Preisverhandlungen schon wichtige Instrumente. Bei den Ärzten können wir durch Honorierung und Qualitätssicherung gegensteuern. Und bei den Kliniken haben wir die Riesen-Kulturrevolution eingeleitet, dass sie nicht mehr nach Liegetagen bezahlt werden, sondern nach diagnosebezogenen Fallpauschalen. Allerdings sehen wir immer, wo wir so etwas versuchen - und wir müssen es versuchen -, dass es in der Gesundheitspolitik zugeht wie in der Medizin: Jede Maßnahme hat erwünschte und unerwünschte Wirkungen. Bei den Fallpauschalen etwa wächst die Gefahr, dass betriebswirtschaftliche Kriterine zunehmend in ärztliches Denken und Entscheiden eindringen, wir müssen also wieder mit Qualitätssicherung gegensteuern und dabei auch die Rolle des Patienten stärken.
Das Parlament: Auch beim Thema Prävention will der Staat eingreifen. Wie lässt sich Gesunderhaltung messen und belohnen?
Rolf Rosenbrock: Zunächst muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Chancen, gesund zu bleiben, aber auch gesund zu werden, sozial sehr ungleich verteilt sind. Wenn ich die Bevölkerung nach Einkommen, Beruf und Bildung unterteile, ergibt sich, dass Menschen aus dem untersten Fünftel in jedem Lebensalter ein etwa doppelt so hohes Risiko tragen, ernsthaft zu erkranken oder vorzeitig zu sterben. Unterm Strich sind das sieben Jahre weniger. Hinzu kommen im Durchschnitt sieben Jahre mehr Leben mit Behinderung durch chronische Krankheiten. Mehr als die Hälfte dieser Unterschiede sind nicht auf persönliches - und ebenfalls sehr stark sozial beeinflusstes - Gesundheits- und Risikoverhalten zurückzuführen, sondern auf Misslichkeiten der Lebenslage, beschränkte Entfaltungsmöglichkeiten, geringeres Selbstbewusstsein und so weiter. Hier hat Prävention anzusetzen. Die Verkürzung der Debatte auf Bonus-Malus-Modelle ist sozialwissenschaftlich blind und gesundheitspolitisch dumm. Ich beklage das sehr, weil wir in dem 2005 gescheiterten Entwurf eines Bundespräventionsgesetzes schon sehr viel weiter waren. Da stand genau drin, was am erfolgreichsten wäre: die vielfältigen Anreize in den Lebenswelten der Menschen durch partizipative Verfahren so zu gestalten, dass gesundes Verhalten einfacher wird als ungesundes Verhalten.
Das Parlament: Wann müssen wir über das große Tabu, die Rationierung gesundheitlicher Leistungen, reden?
Rolf Rosenbrock: Das deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat berechnet, dass alle technischen Innovationen der letzten 50 Jahre - zum Beispiel die Herz-Lungen-Maschine, die Computertomographie, ganze Klassen neuer Medikamente - beitragsneutral finanziert worden sind. Das muss nicht so bleiben. Wenn eine sehr teure, individuell zugeschnittene Krebstherapie käme, stünden wir möglicherweise vor einem großen Problem. Aber bevor das so ist, halte ich es für unverantwortlich, mit dem Drohknüppel der Rationierung zu winken und darüber zu vergessen, dass wir in der Versorgungspraxis schon heute die sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen reflektiert finden.
Das Interview führte Rainer Woratschka. Rainer Woratschka ist Redakteur beim "Tagesspiegel" in Berlin.