Schon Rudolf Virchow hatte vor mehr als 150 Jahren eine "öffentliche Gesundheitspflege" gefordert. Bildung, Wohlstand und Freiheit, aber auch hygienische Maßnahmen wie die Einführung der Kanalisation in den Städten, betrachtete er als Voraussetzung für die Gesunderhaltung und Heilung der Betroffenen. Damit hatte der Mediziner bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Grundpositionen einer Lehre entworfen, die heute als Public Health weit mehr ist als die traditionelle Sozialmedizin.
Die 1986 von der Weltgesundheitsorganisation verabschiedete "Ottawa-Charta" ging im Grundsatz in die gleiche Richtung: Verhaltensweisen und Lebensbedingungen wurden darin als entscheidend angesehen, um die Gesundheit der Bevölkerung zu erhalten. Dies schloss auch andere Politikbereiche wie Umwelt- und Verkehrspolitik genauso wie Verbraucherschutz und oder Gewaltprävention ein. Politik und die "Sorge um das Selbst", forderte die Charta, wären noch vor der medizinischen Prävention und Krankenversorgung wesentliche Gestalter einer gesunden Bevölkerung.
Public Health beruht also auf einer Verbindung verschiedener Ansätze. Die Studiengänge für Public Health sind demnach sowohl an medizinischen Fakultäten als auch an soziologischen Abteilungen verankert.
In Deutschland ist das Konzept von Public Health bisher noch wenig präsent - sowohl bei Politikern als auch bei Ärzten. Denn Gesundheit und Krankheit werden noch immer in erster Linie als ein Thema des Medizin- und Gesundheitssystems wahrgenommen und damit als eine Aufgabe von Ärzten. Doch leisten auch Sozial- und Arbeitsmediziner einen wichtigen Beitrag zur Gesundheit. Sie überwachen Seuchen, regen Impfprogramme an und reduzieren Gefahren am Arbeitsplatz, im Haushalt oder im Verkehr. Viele wichtige Beiträge zur Bevölkerungsgesundheit haben mit dem herkömmlichen Konzept von Medizin nur wenig oder gar nichts zu tun. Das zeigt sich beispielsweise am Problem der Fehl- und Überernährung. Der überwiegende Teil chronischer Volkskrankheiten ist auf schlechte Ernährung, Alkohol oder andere Suchtmittel zurückzuführen. So wären Übergewicht, Diabetes und Erkrankungen des Herz- und Kreislaufsystems teilweise vermeidbar, wenn individuelle Verhaltensweisen gefördert würden. Dazu gehören gesunde Ernährung und körperliche Betätigung, die Sorge um Trink- und Rauchgewohnheiten, aber auch institutionelle Angebote wie Schulsport und Bewegungsprogramme. Nur: Das Gros unserer gesellschaftlichen Anstrengungen ist auf die medizinische Behandlung der Folgen ausgerichtet und setzt somit viel zu spät an. Neuere Studien zum Thema Volkskrankheiten und Gesundheitssystem sprechen von einem "dramatischen Scheitern der verhaltensmedizinischen Ansätze". Das bedeutet, in Deutschland wird ein fortlaufender Anstieg gesundheitlicher Risikofaktoren ausgemacht. Die Ärzte haben im Rahmen einer "Drei-Minuten-pro-Patient-Medizin" kaum Chancen zur Gesundheitsförderung und Prävention. Auch Krankenkassen und Betriebe tun sich schwer mit wirksamen Programmen. Es mag in Bismarcks Zeiten weise gewesen sein, die Medizin den Fachleuten zu überlassen und die Politik weitgehend herauszuhalten. Es ist verständlich, dass nach einer Phase des Missbrauchs der Sozialmedizin durch den Nationalsozialismus Zurückhaltung gegenüber kollektiven Maßnahmen zur Förderung der "Volksgesundheit" bestand. In Zukunft wird man nicht umhin kommen, sich den Erfordernissen einer echten Gesundheitspolitik zu stellen, die Einfluss auf die Gestaltung von Lebens- und Verhaltensweisen nimmt.
Der Autor ist Professor für Gesundheitswissenschaften und Public Health an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg.