Ausnahmsweise zeigt sich der Pressesprecher eines großen Krankenkassenverbandes zugeknöpft. Politische Stellungnahmen zur umstrittenen Gesundheitsreform? Gerne! Aber einen Überblick über die neuen Wahlmöglichkeiten für die Versicherten im nächsten Jahr? "Da spielen die Unternehmen die Karten eng vor der Brust", wiegelt der alt- gediente Branchenkenner bohrende Nachfragen ab: "Da reden die nicht gerne drüber. Die tun was." Das nennt man Wettbewerb. Und genau diese Konkurrenz zwischen den Kassen will die große Koalition mit ihrer Gesundheitsreform befördern - zum Wohle der Versicherten: Die Kassenpatienten erhielten "durch mehr Wettbewerb und mehr Transparenz künftig noch stärkere Wahlmöglichkeiten", verspricht die Bundesregierung auf Seite 245 ihres Ge setzesentwurfs. Erstmals sollen auch Pflichtversicherte vom April des kommenden Jahres an Tarife mit Selbstbehalt oder Beitragsrückgewähr wählen können. Mittelfristig soll ihnen außerdem der von seinen Kritikern "kleine Kopfpauschale" genannte Zusatzbeitrag ab 2009 die Preisunterschiede zwischen AOK, Barmer, BKK und Co. noch deutlicher machen. "Wer gesetzlich versichert ist, kann in Zukunft besser beurteilen, ob seine Kasse wirtschaftlich arbeitet oder nicht", verspricht Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD).
Ein bisschen Wahlfreiheit wurde den gesetzlich Versicherten bereits mit der vorhergegangenen Reform eingeräumt: Seit 2004 können sich chronisch Kranke für spezielle Programme entscheiden. Für alle Versicherten gibt es so genannte Hausarzttarife. Wer sich verpflichtet, bei Erkrankungen grundsätzlich zunächst seinen Hausarzt aufzusuchen und sich von diesem stets zum Fachmediziner überweisen zu lassen, kann beispielsweise bei der Barmer 30 Euro Praxisgebühr im Jahr sparen. Aus den Einwänden von Kritikern, die in derartigen Tarifen ein Marketingins- trument ohne Qualitätskontrolle sehen, zieht die Große Koalition nun Konsequenzen: Mit der Reform werden inhaltliche Mindestanforderungen an den "Lotsen" durch das Gesundheitssystem fixiert und der Besuch von Fortbildungsveranstaltungen vorgeschrieben.
Für Wirbel dürften im nächsten Frühjahr aber vor allem die neuen Wahltarife sorgen. Bislang darf die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) solche differenzierten Angebote nur freiwillig Versicherten anbieten, die mehr als 47.250 Euro im Jahr verdienen. So soll dieser Personenkreis von einem Wechsel in die private Krankenversicherung abgehalten werden. Künftig wird die Rabattschlacht für alle eröffnet. Auf entsprechend heißen Touren laufen die Vorbereitungen bei den Kassen. "Wir rechnen eifrig", sagt Jörg Bodanowitz, Sprecher der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK). Möglichst noch vor Weihnachten wolle man erste Angebote vorlegen: Das wird die Konkurrenz kaum tatenlos hinnehmen. Mit einer großen Versichertenbefragung versucht die Barmer derzeit herauszufinden, wo genau der Bedarf ihrer Kunden liegt. Und auch die Techniker Krankenkasse (TK) will "diese Chance auf jeden Fall nutzen".
Details mag bislang niemand verraten. Doch gilt es in der Branche als wahrscheinlich, dass die meisten Kassen einen Selbstbehalt-Tarif anbieten werden. Die Versicherten müssen sich für mindestens drei Jahre verpflichten, einen bestimmten Teil der Behandlungskosten für sich und ihre volljährigen Mitversicherten selbst zu tragen. Dafür winkt im Gegenzug eine Prämie. Bei der TK beträgt der Selbstbehalt bislang 300 Euro und der Bonus 240 Euro im Jahr. Die Barmer überweist ihren Kunden 250 Euro, wenn sie sich verpflichten, bis zu 320 Euro im Jahr aus eigener Tasche zu zahlen. Wer 50 Prozent aller Kosten übernimmt, erhält sogar 650 Euro.
Das klingt für junge und gesunde Menschen recht attraktiv. Trotzdem hegen Branchenkenner leise Zweifel, ob der Selbstbehalt bei der breiten Masse der GKV-Kunden so populär ist. "Das wird in der politischen Diskussion komplett überschätzt", sagt ein Insider. Nach unwidersprochenen Brancheninformationen haben sich bei der DAK gerade einmal 169 Teilnehmer für den Tarif angemeldet, der eine Erstattung von 370 Euro bei 400 Euro Eigenanteil vorsieht. Bei der TK sind es immerhin einige Zehntausend.
Kein finanzielles Risiko geht ein, wer einen Tarif mit "Prämienzahlung" wählt. Hinter dem Begriff verbirgt sich nichts anderes als die in der privaten Krankenversicherung weit verbreitete Beitragsrückerstattung. Nehmen der Versicherte und seine volljährigen Angehörigen ein Jahr lang keine Leistungen der Kasse in Anspruch, dann erhält er einen Teil seines Geldes zurück. Die DAK winkt ihren freiwillig Versicherten heute nach einem Jahr Arzt-Abstinenz mit 250 Euro, nach zwei Jahren mit 375 Euro und nach drei Jahren mit 500 Euro. Die BKK erstattet bislang ebenfalls gestaffelt einen halben, einen dreiviertel oder einen ganzen Monatsbeitrag. Mehr wird es auch künftig nicht geben: Das Gesetz begrenzt die mögliche Prämie auf einen Monatsbeitrag.
Am weitesten vom traditionellen System der GKV entfernen sich die neuen Kostenerstattungstarife. Bislang gilt bei den Kassen das Sachleistungsprinzip: Der Versicherte geht zum Arzt, zeigt seine Chipkarte und hat mit der Abrechnung nichts zu tun. Bei der Kostenerstattung erhält er eine Rechnung nach Hause, die er begleichen muss. Anschließend reicht er die Rechnung bei der Kasse ein und bekommt das Geld ersetzt. "Ich bin eher skeptisch, dass das boomen wird", räumt die Expertin einer großen Ersatzkasse ein. Allerdings können sich die Versicherten auf diese Weise eine bessere Behandlung beim Doktor sichern. Der Mediziner kann nämlich ein höheres Honorar in Rechnung stellen. Will der Patient dies von seiner Kasse komplett erstattet bekommen, muss er einen entsprechend höheren Beitrag zahlen.
Die Begeisterung der Verbraucherschützer über die neue Vielfalt für Kassenpatienten hält sich derweil in Grenzen. "Es droht ein ziemlicher Tarif-Wirrwarr", sagt Thomas Isenberg, der Experte des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen. Zwar begrüßt er, dass sich die neuen Tarife durch Einsparungen und Effizienzsteigerungen selbst tragen müssen, sodass eine Quersubventionierung durch die Solidargemeinschaft ausgeschlossen ist. Doch sei zu befürchten, dass Patienten aus falscher Sparsamkeit notwendige Arztbesuche unterlassen oder beim Kostenerstattungsprinzip vom Doktor ökonomisch "übervorteilt" würden, warnt der Verbraucherschützer.
In den Wahltarifen sieht Isenberg vor allem ein Marketinginstrument. Doch dessen Wirkung könnte sich mit dem Start des Zusatzbeitrags im Jahr 2009 deutlich abschwächen. Diese kleine Kopfpauschale wird fällig, wenn die Versicherungen mit dem Betrag, der ihnen aus dem Gesundheitsfonds zugewiesen wird, nicht auskommen. Derzeit diskutiert die Öffentlichkeit viel über die Acht-Euro-Pauschale. Tatsächlich kann der Zusatzbeitrag aber maximal ein Prozent des Einkommens betragen. "Wenn eine Kasse erst einmal 30 Euro im Monat extra verlangen muss, dann werden alle anderen Angebote schnell irrelevant", glaubt Verbraucherschützer Isenberg.
Der Autor ist Parlamentskorrespondent beim "Handelsblatt" in Berlin.