Auf den Tod hatte sich Susanne P. (Name von der Redaktion geändert) gut vorbereitet: Sie hatte einen Pflegedienst beauftragt, eine Haushaltshilfe engagiert und sich auf die Liste eines Hospizes setzen lassen. Erst vor sechs Monaten hatte die 67-Jährige ihre Diagnose erhalten: Brustkrebs. Nachdem die Ärzte ihr eröffnet hatten, dass es für sie keine Chance auf Heilung gab und sie bald sterben würde, hatte sie ganz bewusst die Entscheidung getroffen, möglichst lange alleine in ihrer gewohnten Umgebung zu bleiben. "Ich habe sie in ihrem Wunsch zuhause, zu sterben, unterstützt", sagt Achim Rieger.
Der Allgemeinmediziner hat Susanne K. als "Home Care-Arzt" in den letzten Wochen ihres Lebens intensiv betreut - nicht nur medizinisch. Im Schnitt dreimal pro Woche kommt der 40-Jährige zu seinen Patienten - fast ausschließlich nicht heilbaren Tumorpatienten. Neben der Versorgung von Wunden und der Einstellung der Schmerztherapie bringt er ein besonders kostbares Gut für die Patienten mit: Zeit. In intensiven Gesprächen versucht er den Kranken ein wenig von ihren Ängsten vor dem Tod zu nehmen und kümmert sich auch um die Angehörigen, die oftmals starken Belastungen ausgesetzt sind. Seine Patienten können ihn rund um die Uhr anrufen. "Früher hätte es keinen Arzt gegeben, der sie so intensiv betreut hätte", sagt er. Als Home-Care-Arzt verfügt der Allgemeinmediziner über spezielle Kenntnisse aus dem Bereich der Palliativmedizin - der professionellen Begleitung schwerstkranker Menschen. Sie hat sich in Deutschland erst in den letzten 20 Jahren entwickelt. Palliativmedizin ist keine Sterbemedizin, sondern zielt darauf ab, die Lebensqualität vor und während des Sterbens zu verbessern. Jahrelang wurde medizinischer Fortschritt vorwiegend als "High-Tech-Medizin" definiert, worüber die eigentlichen Bedürfnisse Schwerstkranker oftmals vergessen wurden.
Die Missstände bei der professionellen Begleitung Sterbender hatte im Juni 2005 auch die Enquête-Kommission "Ethik und Recht der modernen Medizin" angeprangert. Wie in Deutschland mit Schwerstkranken umgegangen werde, sei "einer entwickelten Nation unwürdig", hatte das damalige Mitglied der Kommission, Christa Nickels, bemängelt und mit ihren Kollegen im Abschlussbericht der Kommission eine gesetzliche Absicherung des Anspruchs auf palliativmedizinische Leistungen gefordert. Nachdem die Forderung auch in den Koalitionsvertrag aufgenommen worden war, wurde der Anspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung in die Gesundheitsreform aufgenommen. Ab 2007 sollen dafür erst 80 Millionen und bis zum Jahr 2010 insgesamt 240 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Der Weg zu einer bedarfsgerechten und umfassenden Palliativversorgung ist aber noch weit.
Denn obwohl sich die meisten Menschen eine solche Versorgung an ihrem Lebensende wünschen, reicht die Zahl der dafür ausgebildeten Ärzte und ambulanten Einrichtungen noch nicht aus: Auf eine Million Einwohner kommen statistisch gesehen 27 Palliativ- und Hospizbetten, hat die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) errechnet - der Bedarf läge bei etwa 50 Betten. Sie sind zudem regional sehr unterschiedlich verteilt: Während Stadtstaaten wie Hamburg und Berlin oder aber auch Länder wie das Saarland über eine gute Versorgung verfügen, gibt es in Hessen und Baden-Württemberg noch vergleichsweise wenige Betten. Dennoch ist die Verankerung der Palliativmedizin in der Gesundheitsreform für den Verband ein großer Erfolg: "Wir sind froh, aber wir können noch nicht sagen, alles wird gut", meint Thomas Schindler, Geschäftsführer der DGP. In einigen Bereichen müsste noch nachgebessert werden: "Wir hätten uns gewünscht, dass in dem Gesetz nicht nur die spezialisierte ambulante Versorgung, sondern auch die Palliativmedizin in den Kliniken geregelt worden wäre", so Schindler. Denn dort ist eine kostendeckende Behandlung auf den Palliativstationen noch nicht möglich. Auch sind die Leistungen im ambulanten Bereich noch ausschließlich an Ärzte und Pflegende gebunden. Palliativmedizin sieht sich aber als ganzheitliches Konzept an, in das auch andere Berufsgruppen einbezogen werden. "Auch Sozialarbeiter, Seelsorger oder zum Beispiel Psychologen können zu einem Palliativ-Care-Team gehören und sind im Moment noch nicht ausreichend berücksichtigt", bemängelt Schindler. Entscheidend ist jetzt, wie das neue Konzept der spezialisierten, ambulanten Palliativversorgung in der Praxis umgesetzt werden wird. Auch hier gibt es eine kleine Revolution: Erstmals müssen die so genannten Leis- tungserbringer direkt mit den Krankenkassen verhandeln. Das Bundesgesundheitsministerium verspricht sich dadurch mehr Wettbewerb, Kritiker fürchten hingegen, dass einheitliche Standards dem Wettbewerb zum Opfer fallen könnten. "Hier werden die Karten ganz neu gemischt", sagt Schindler mit Blick auf die zukünftige Finanzierung der Palliativmedizin. Als Home-Care-Arzt ist für Achim Rieger jedoch vor allem entscheidend, dass er seinen Patienten auch weiterhin ermöglichen kann, das Ende ihres Lebens selbstbestimmt und mit so wenig Schmerzen wie möglich in der gewohnten Umgebung verbringen zu können. "Sterben ist auch ein Stück Leben", sagt er, und schon klingelt wieder sein Handy.
Die Autorin ist Redakteurin der Zeitung "Das Parlament".