St. Pauli Süd ist kein Vergnügungsviertel. Drogenhandel und Obdachlosigkeit sind in diesem Hamburger Bezirk an der Tagesordnung. Kein guter Ort für Kinder. Seit fünf Jahren gibt es deshalb das Familienprojekt Adebar, das Kaffee, Krisenberatung und eine Familienhebamme anbietet. Dem Bundesgesundheitsministerium und der Bertelsmann-Stiftung gefiel diese Stadtteilarbeit so sehr, dass sie Adebar in diesem Jahr den Deutschen Präventionspreis verliehen hat, der alljährlich für besondere Projekte im Bereich der Gesundheitsvorsorge ausgelobt wird.
Was Krisenhilfe mit Gesundheit zu tun hat? Sehr viel, sagt Mirjam Hartmann. Die Sozialpädagogin leitet das Projekt: "Eine alleinerziehende Mutter, die wegen Mietschulden von Obdachlosigkeit bedroht ist, kann sich nicht richtig um ihre Kinder kümmern. Sie kocht ihnen kein gesundes Essen, sie geht nicht zur Früherkennungsuntersuchung. Das haben wir hier häufig. 95 Prozent der Familien, die in die Krisenhilfe kommen, sind sozial Benachteiligte." Wer arm ist, hat ein höheres Risiko, krank zu werden. Wie das Robert-Koch-Institut im jüngsten Kinder- und Jugendbericht belegt, kommen von den 15 Prozent der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen die meisten aus sozial benachteiligten Familien. Übergewicht wiederum begünstigt andere Krankheiten, etwa die so genannte Altersdiabetes, die inzwischen sogar schon bei Minderjährigen auftritt. 5 Milliarden Euro kostet die Behandlung von Diabetes Typ II jährlich. Rolf Stuppardt, der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands der Innungskrankenkassen (IKK) erklärt, dass bis zu einem Fünftel aller Krankheitskosten mittelfristig eingespart werden könnten, wenn man die Prävention ausbauen würde. "Allerdings müssen wir erst einmal in die Prävention investieren."
Zu dieser Erkenntnis sind auch Bund, Länder und Gemeinden gekommen. Das deutsche Gesundheitswesen ist zu einseitig auf die Behandlung und Linderung bereits eingetretener Erkrankungen ausgerichtet, heißt es in den Eckpunkten der Bund-Länder-Arbeitsgruppe für ein Präventionsgesetz. Mit diesem Gesetz sollte schon im letzten Jahr ein Paradigmenwechsel eingeleitet und Vorbeugung als vierte Säule des Gesundheitswesens verankert werden. Als Kernstück war eine gemeinsame Stiftung aller Sozialhilfeträger geplant, die 50 Millionen Euro in Präventionsprojekte umverteilen sollte. Der Bundestag verabschiedete das Gesetz mit rot-grüner Mehrheit im März 2005. Es scheiterte jedoch im Bundesrat. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hat angekündigt, im nächsten Jahr einen neuen Anlauf zu starten.
Gegenwärtig fließen nach Auskunft des Ministeriums etwa zwei bis vier Prozent der jährlichen Ausgaben in Prävention und Gesundheitsvorsorgung - der Großteil davon in Schutzimpfungen oder Früherkennungsuntersuchungen. Die aktuelle Gesundheitsreform stärkt diesen Bereich der Sekundärprävention weiter, indem bestimmte Schutzimpfungen in den Pflichtkatalog der Kassenleistungen geschrieben werden und mangelnde Vorsorge mit höheren Zuzahlungen geahndet werden soll. Für die alltägliche Gesundheitsvorsorge ändert sich hingegen wenig. Für diesen Bereich der so genannten Primärprävention geben die Krankenkassen gesetzlich vorgeschriebene 2,74 Euro pro Versichertem aus, insgesamt rund 190 Millionen Euro pro Jahr. Etwa 50 Cent pro Versichertem wenden sie für die betriebliche Vorsorge auf, zum Beispiel für Kurse zum Stressabbau. 4 Cent gehen in den Bereich "Gesund altern". Den Löwenanteil von 2,20 Euro stecken die Kassen in den Kinder- und Jugendbereich. Aber: "Alles was wir in der Primärprävention machen, ist angesichts des riesigen Bedarfs nur ein Tropfen auf den heißen Stein", meint Stuppardt. Und Heike Wöllenstein, die Präventionsexpertin vom Bundesverband der Ortskrankenkassen, gibt zu bedenken: "Wer die Prävention stärken will, braucht einen langen Atem und muss viel Geld in die Hand nehmen, damit sich nachhaltige Erfolge einstellen."
Die Fachleute plagt noch ein zweites Problem: "Es ist schwierig, jene zu erreichen, die es wirklich nötig haben", sagt Stuppardt. Von Ernährungskursen und Rückenschulen profitieren also vor allem die Mittel- und Oberschichten. Der Bielefelder Gesundheitssoziologe Ullrich Bauer nennt dieses Phänomen das Präventionsdilemma. Sozial Schwächere seien in doppelter Hinsicht benachteiligt, erklärt er: Zum einen hätten sie ein erhöhtes Risiko krank zu werden, gleichzeitig käme Prävention vor allem bei denen an, denen es sowieso gut gehe. Viele größere Programme seien nicht auf den Bedarf und die Bedürfnisse der Bedürftigen ausgerichtet. Diejenigen, die die Angebote entwickeln, entstammen einer anderen Schicht, sie setzen ihre eigene Rationalität voraus. Doch Leute, deren Zukunftsaussichten schlecht seien, kümmerten sich auch nicht mehr um ihre Gesundheit. Das, so Bauer, könne in einem selbstzerstörerischen Zirkel münden. Mit Repressionen sei dagegen nicht anzukommen, kritisiert er die neuen Zuzahlungsregelungen der Bundesregierung. Krebskranke, die nicht regelmäßig beim Gesundheits-Check waren, müssen demnach in Zukunft mehr für ihre Behandlung ausgeben. Und Bauer regt an, mehr auf die Betroffenen zuzugehen, statt auf sie zu warten: Denn Gesundheitspolitik ist auch Sozialpolitik. Vor-Ort-Projekte wie das Adebar Familienzentrum funktionierten unter anderem deshalb so gut, weil alle zusammenarbeiteten: Die Entbindungsklinik im Stadtteil oder das Jugendamt drückten den jungen Eltern die Adresse in die Hand und schickten sie gezielt vorbei, erläutert Leiterin Mirjam Hartmann. Allerdings sei ihr Wirkungsbereich viel zu klein, neun von zehn Müttern müsse sie abweisen. "Meine Vision ist eine soziale Infrastruktur", sagt sie, "ein flächendeckendes Netz von Familienhilfezentren."
Die Autorin ist Redakteurin der "tageszeitung".