Das Parlament: Herr Lauterbach, worin wird sich unser heutiges Gesundheitssystem von dem im Jahr 2020 unterscheiden?
Karl Lauterbach: Das hängt davon ab, was wir in den nächsten beiden Legislaturperioden entscheiden. Wir stehen vor einer großen demografischen Herausforderung. Die Baby-Boomer-Generation, also die Jahrgänge 1958 bis 1968, wird älter werden, krank werden und in Rente gehen. Diese Generation, die heute auf dem Höhepunkt ihres persönlichen Einkommens und ihrer persönlichen Gesundheit ist, wird außerdem weniger verdienen. Entscheidend ist, ob wir andere Einnahmen für das System realisieren können als nur Beiträge auf Lohn und Gehalt, insbesondere Steuermittel sowie Einnahmen aus Kapitaleinkünften. Darüber hinaus müssen wir das System modernisieren. Wir müssen mehr für Vorbeugung und die Früherkennung ausgeben. Wir müssen das System durch mehr Wettbewerb effizienter machen. Das System ist derzeit um 25 Prozent teurer als andere europäische Gesundheitssysteme mit vergleichbarer Qualität.
Daniel Bahr: Die Alterung der Gesellschaft wird dazu führen, dass die Menschen mehr Geld für die Vorsorge für Gesundheit, aber auch für Alter und Pflege ausgeben müssen. Meine Hoffnung ist: Sie werden dabei große Wahlfreiheiten haben. Gesundheit ist ein Wachstumsmarkt. Deutschland wird weiterhin ein sehr leistungsfähiges Gesundheitssystem mit mehr Arbeitsplätzen haben. Auch sozial Schwache werden einen Zugang zum Versorgungssystem, auch zur Hochleistungsmedizin, haben. Meine Sorge aber ist, dass wir mehr und mehr zu einem staatlichen Gesundheitssystem kommen. Ich fürchte aber den Weg in ein staatliches Gesundheitswesen. Das führt zu Rationierungen, Mangelverwaltung und längeren Wartelisten. Die Tendenz zu einer Zwei-Klassen-Medizin wird sich noch stärker entwickeln. Dann wäre die Qualität der Versorgung für eine breite Schicht der Bevölkerung deutlich schlechter als heute.
Lauterbach: Aber Ihr Vorschlag, den Versicherten mehr Wahlmöglichkeiten zu geben, läuft doch genau auf eine Zwei-Klassen-Medizin hinaus.
Bahr: Klar ist, es muss eine Basisversorgung geben. Über Details etwa die Frage eines Hausarzttarifs oder die Höhe des Selbstbehalts, soll jeder selbst entscheiden.
Lauterbach: In dem Moment, in dem Sie eine Basisversorgung und Zusatzangebote haben wollen, plädieren Sie für ein Mehr an Zwei-Klassen-Medizin.
Bahr: Was ist denn die Ursache für die Zwei-Klassen-Medizin? Sie liegt auch darin, dass in unserem System unterschiedlich honoriert und 30 Prozent der Leistungen niedergelassener Ärzte gar nicht honoriert werden. Aus diesem Grund schieben niedergelassene Ärzte Behandlungen häufig ins nächste Abrechnungsquartal. Das ist eine der Hauptursachen, warum es zu Wartezeiten in den Praxen und zu einem unterschiedlichen Service zwischen Privat- und GKV-Patienten kommt.
Lauterbach: Die Behauptung der Kassenärztlichen Vereinigungen, dass 30 Prozent der Leistungen nicht honoriert würden, ist in Ordnung, wenn sie ein Lobbyist der KV vorträgt. Es ist aber nicht in Ordnung, wenn Sie das einfach übernehmen. Die Wahrheit ist, dass kaum irgendwo auf der Welt niedergelassene Ärzte eine so große Honorarsumme erhalten wie in Deutschland. Wir haben eine enorm hohe Arztdichte. Die Zahl der niedergelassenen Ärzte ist in den letzten zehn Jahren um 25 Prozent gestiegen.
Bahr: Sie weichen dem Problem der Budgetierung aus.
Das Parlament: Noch immer erhält jeder Patient die medizinische Leistung, die er braucht, ohne dafür tief in die eigene Tasche greifen zu müssen. Ist das durch die demografische Entwicklung und den finanziellen Druck gefährdet?
Lauterbach: Nein. Wir werden als Gesellschaft insgesamt mehr für Gesundheit ausgeben, weil es mehr Ältere geben wird. Wie hoch die Ausgaben pro Person sein werden, das lässt sich von der Politik beeinflussen. Daher ist der Satz von Bundeskanzlerin Merkel "Medizin wird teurer" nicht nachvollziehbar. Beispielsweise gibt es Länder, die gemessen am Bruttoinlandsprodukt heute weniger für die Gesundheitsversorgung ausgeben als vor zehn Jahren. Unser System ist, wie gesagt, um 25 Prozent teurer als die Systeme vergleichbarer europäischer Länder - und dies bei gleicher Versorgungsqualität. Das bedeutet: In Deutschland müssten die Gesundheitsausgaben trotz der Alterung der Gesellschaft in den nächsten zwei Jahrzehnten nicht zwangsläufig steigen.
Bahr: Die Ausgaben sind vergleichsweise hoch. Das hat Gründe: Wir haben eine hohe Arztdichte, wir haben eine wohnortnahe Versorgung. Es gibt Doppeluntersuchungen, da müssen wir etwas ändern. Dennoch ist es wichtig, den Leuten zu sagen, dass sie sich auf steigende Gesundheitsausgaben einstellen müssen, aber durch gesundheitsbewusstes Verhalten Einfluss auf diese Kosten nehmen können.
Das Parlament: Es ist aber Sache der Politik, Ineffizienzen im System zu beseitigen...
Lauterbach: Wir haben große systematische Probleme. Zum Beispiel bei den Fachärzten. Wir leisten uns dort eine große Zahl von Spezialisten im ambulanten Bereich und an Krankenhäusern. Diese doppelte Facharztschiene kostet uns pro Jahr 5 bis 10 Milliarden Euro. Wir haben in Deutschland pro Jahr rund 15 Millionen Klinikeinweisungen. Ein erheblicher Teil dieser Einweisungen wäre vermeidbar, wenn die Spezialisten an den Krankenhäusern diese Fälle ambulant versorgen könnten. Das betrifft etwa 20 Prozent aller stationär behandelten Fälle.
Bahr: Daraus darf aber nicht der Schluss gezogen werden, dass wir nur an Krankenhäusern Fachärzte haben sollten. Vielmehr sollten wir die Schnittstellenprobleme anpacken. Wir brauchen einen fairen Wettbewerb zwischen Krankenhäusern und Arztpraxen.
Lauterbach: Ich bin nicht dafür, dass die niedergelassene Ärzte abgeschafft werden. Ihre Zahl sollte jedoch reduziert werden.
Bahr: Gerade in ländlichen Regionen brauchen wir die Fachärzte.
Das Parlament: Sollten die Hausärzte zu Lotsen aufgewertet werden, die die Patienten durch das komplizierte Gesundheitswesen führen?
Bahr: Ich bezweifle, dass die Lotsenfunktion Geld einspart. Die ersten Ergebnisse von hausarztzentrierten Modellversuchen weisen dies nicht nach. Hausärzte müssten entsprechend qualifiziert sein und die nötige Zeit haben, um als Lotse Entscheidungen zu treffen.
Lauterbach: Den Hausarzt zu stärken, würde auch bedeuten, die Vorsorge zu stärken. Das wäre sehr zu begrüßen, denn im System der Vorbeugung haben wir eklatante Mängel. Ich bin der Meinung, dass man vom Patienten verlangen kann, dass er zuerst zum Hausarzt geht.
Bahr: Um so mehr ist es erforderlich, den Hausarzt entsprechend zu qualifizieren.
Das Parlament: Könnte der Hausarzt nicht auch zu großen Teilen die Abgabe von Medikamenten an die Patienten direkt übernehmen - zu deutlich geringeren Kosten als dies derzeit in den Apotheken geschieht?
Lauterbach: Wir haben auch zu viele Apotheken. Die Apotheke ist zu teuer. Wir müssen bei den Apothekern den Wettbewerb erst noch erfinden. Wie gut die Medikamentenversorgung in einem Land ist, hängt in erster Linie davon ab, wie gut die Ärzte verschreiben und wie gut die Patienten in die medikamentöse Therapie eingebunden sind. Den geringsten Beitrag für eine gute Arzneimittelversorgung leistet der Apotheker.
Bahr: Wir haben in Deutschland eine sehr gute Beratungs- und Abgabequalität. Dennoch habe ich nichts gegen Internetapotheken. Es ist aber zu berücksichtigen, dass die Versorgung an Wochenenden oder in der Nacht nicht die Internetapotheke sicherstellt, sondern die Apotheke am Ort.
Das Interview führte Markus Jantzer