Ob Aktionstage, Unterschriftenaktionen, Pressekonferenzen oder Plakatkampagnen - kaum etwas wurde in den vergangenen Wochen von den Verbänden der Gesundheitsbranche ausgelassen, um gegen den Gesundheitskompromiss der Großen Koalition zu protestieren. In der Ablehnung der Reform sind sich Ärzte und Apotheker, private und gesetzliche Krankenkassen sowie Patientenverbände so einig wie selten. Der befürchtete Einstieg in eine "Staatsmedizin" lässt die Unterschiede in den Interessenslagen zumindest kurzfristig verschwinden.
Auch der "Schweinsgalopp durch die parlamentarischen Instanzen", wie es der Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, Frank Ulrich Montgomery, nennt, regt die Verbände auf. Montgomery spricht von "politischer Arroganz". Die Ärzteschaft lehnt die Reform geschlossen ab. Es werde nicht reformiert, "sondern lediglich abkassiert", so Montgomery. Die Große Koalition sei zwar mit viel Vorschusslorbeeren gestartet, nun erlebe sie beim Thema der Gesundheitsreform aber "eine knallharte Bruchlandung, die mehr und mehr zur Existenzfrage von Frau Merkel und Herrn Müntefering" werde.
Auf die private Krankenversicherung (PKV) kommen aufgrund des geplanten Rückkehrrechts jedes Bürgers in seine letzte Versicherung und des geplanten Basistarifs große Veränderungen zu. Entsprechend groß sind die Vorwürfe des Verbandsdirektors der privaten Krankenversicherung, Volker Leienbach: Die Politik wolle "verfassungswidrig in bestehende Verträge der Privatversicherten eingreifen und sie mit Beitragserhöhungen im zweistelligen Prozentbereich belasten".
Zudem müssten die Versicherten der privaten Kassen den Basistarif mit ihren Beiträgen subventionieren. Resultat sei, dass auch die privat Versicherten die so entstehenden Belastungen nicht finanzieren könnten und selbst in den GKV-ähnlichen Basistarif strebten. "Am Ende wird die PKV zur GKV", befürchtet Leienbach. Sollte die Politik nicht einlenken, wird es nach den Worten des Privat-Lobbyisten zu einer Klagewelle kommen. Auch die gesetzlichen Krankenkassen gehen von Mehrbelastungen für ihre Versicherten aus. Die Vorstandsvorsitzende der Ersatzkassenverbände VdAK/AEV, Doris Pfeiffer, betont, bis 2009 werde der durchschnittliche Beitragssatz von heute 14,22 Prozent auf über 15 Prozent steigen, um den Finanzbedarf der GKV zu decken. "Entgegen den Behauptungen der Politik wird der Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht gefördert, sondern durch Tendenzen zur Verstaatlichung - sprich Einheitsbeitragssatz, Dachverband und Regulierungsbehörde - eingeschränkt", führt Pfeiffer aus. Der Wettbewerb werde sich um den Zusatzbeitrag drehen, den die Kassen von den Versicherten verlangen müssen, wenn sie mit dem Geld aus dem Gesundheitsfonds nicht auskommen. Dies werde vor allem Kassen treffen, die viele Geringverdiener und kranke Menschen versichern. Pfeiffers Vorwurf an die Politik: Mit der Reform werde nur "parteipolitischem Kalkül" Rechnung getragen.
Ebenso beklagen die Apotheker, durch die Schaffung "kartellähnlicher Spitzenverbände unter Aufsicht des Bundesgesundheitsministeriums", den Weg in die "Staatsmedizin". Heinz-Günter Wolf, Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), sieht langfristig die flächendeckende Arzneimittelversorgung in Gefahr. "Apotheken in ländlicher Lage oder an den Stadträndern werden schließen müssen." Bislang werden Arzneimittel nach festgelegten Preisen abgegeben. Künftig soll die Verordnung jedoch auf Höchstpreise umgestellt werden, die Apotheker sollen dann mit den Herstellern niedrigere Preise aushandeln können. Die Apotheken befürchten ein Minusgeschäft.
Was Kassen und Apotheker verärgert, steht auch bei den Patienten nicht hoch im Kurs. Die Deutsche Gesellschaft für Versicherte und Patienten (DGVP) lehnt die Reform ebenfalls ab. Sie bringe nur "weiterhin steigende Kosten für die Versicherten" sowie weitere Leistungseinschränkungen, sagt DGVP-Präsident Wolfram-Arnim Candidus. Er begrüße zwar die Stärkung der Prävention, lehne jedoch eine "rückwirkende Bestrafung" von Patienten ab, die keine Vorsorgemaßnahmen in Anspruch nehmen". Candidus ist enttäuscht, dass man sich trotz der großen parlamentarischen Mehrheit nicht auf eine durchgängige strukturelle Veränderung des Gesundheitssystems verständigen konnte. Es seien lediglich "viele Kompromisse aneinandergereiht" und "Flickschusterei" betrieben worden. Der Beschluss des Bundestages über das Reformpaket wird sich entgegen den ursprünglichen Absichten des Gesundheitsministeriums ins neue Jahr verschieben. Für die Verbände Anlass zur Hoffnung, doch noch entscheidend auf das Gesetzgebungsverfahren einwirken zu können. Nach dem bundesweiten Protesttag wollen einige Verbände offenbar über die Länder und den Bundesrat versuchen, Einfluss auf das Reformwerk zu nehmen. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) warnte die Gesundheitsverbände jedoch, sich Hoffnungen auf eine Aufweichung der Reformpläne zu machen. Dies werde ihnen trotz der geplanten weiteren Expertenanhörungen nicht gelingen. Dass sich noch Entscheidendes an der Reform verändern werde, sei eine "Fehleinschätzung."
Die Autorin ist Korrespondentin der Nachrichtenagentur ddp in Berlin.