Biografie
Tim Szatkowski über den politischen Werdegang von Karl Carstens
Ich sehe mich in erster Linie als Liberalen an", betonte Karl Carstens, der fünfte Präsident der Bundesrepublik, in seiner 1993 posthum erschienenen Autobiografie. Vor seiner Wahl 1979 nahmen ihm manche Gegner den liberalen Staatsmann nicht ab. Carstens sei ein typischer Vertreter des rechtskonservativen Politikertypus, zudem durch seinen Eintritt in die NSDAP 1937 für das höchste Staatsamt diskreditiert. Nun versucht eine Dissertation des Historikers Tim Szatkowski, Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte, eine umfassende Einordnung des 1992 verstorbenen CDU-Politikers.
Bereits der Untertitel "politische Biografie" verrät Szatkowskis demonstratives Desinteresse an Carstens' Persönlichkeit jenseits der Politiker-Vita. Er erweist sich als Chronist, der gewissenhaft aus einem 160 Seiten starken Quellen- und Literaturverzeichnis schöpft. Aber sein Verzicht auf jede anekdotische Farbe macht Karl Carstens zu einem Mann ohne Eigenschaften. Selbst Carstens' 1944 geschlossene Ehe mit Veronica Prior, die bis zu seinem Tod Bestand hat, ist ihm nur einen Satz wert.
"Seine Karriere ist in der Bundesrepublik einzigartig", urteilt Szatkowski, schränkt aber zugleich ein, Carstens habe "der Geschichte der Bundesrepublik nie seinen Stempel aufgedrückt". Kindheit und Jugend, für viele Biografen eine wichtige Quelle, handelt Szatkowski knapp ab. Dabei sind die frühen Jahre nicht ohne Dramatik: Als Karl 1914 in einem bürgerlich-liberalen Elternhaus in Bremen geboren wird, ist sein Vater, ein Studienrat, bereits an der Westfront gefallen. Der Mutter kommt die Rolle der alleinerziehenden Ernährerin zu.
1933 legt Carstens an einem humanistischen Gymnasium sein Abitur ab und beginnt ein Jura- und Politikstudium. In Frankfurt am Main, seiner ersten Universität, wohnt er in einem studentischen "Kameradschaftshaus", dessen Bewohner "am SA-Dienst teilnahmen, der von Frankfurter SA-Führern geleitet wurde". Zu seinen Professoren zählt Ernst Forsthoff, der, "dem Zauber Hitlers erlegen", 1933 das Buch "Der totale Staat" verfasst hatte. Offen bleibt, warum Carstens häufig die Universität wechselt. Er promoviert 1937 in Hamburg mit einer Dissertation über den "gutgläubigen Erwerb von Pfandrechten an Grundstücksrechten". Darin mache Carstens, so Szatkowsi, keinerlei Zugeständnisse an den NS-Zeitgeist. Im selben Jahr allerdings beantragt er seine Mitgliedschaft in der NSDAP. Über die Motive liegen keine Quellen vor. Da Karl Carstens jedoch zur Wehrmacht eingezogen wird und Soldaten sich nicht politisch betätigen dürfen, ruht die Mitgliedschaft. Deshalb sei er nie Mitglied der Partei gewesen, rechtfertigt er sich 1948.
Nach dem Krieg lässt sich Carstens in seiner Heimatstadt als Rechtsanwalt nieder und kooperiert mit der amerikanischen Besatzungsmacht. Wilhelm Kaisen, Bremens sozialdemokratischer Bürgermeister, wird auf den jungen Juristen aufmerksam und macht ihn 1949 zum Bevollmächtigten des Landes Bremen beim Bund. Erfolgreich setzt er sich mit Kaisen bei den Allierten für die Lockerung der Beschränkungen im Schiffbau ein.
Bonn ist fortan die Bühne, auf der Carstens karrierebewusst agiert. Er rückt 1961 zum Staatssekretär im Auswärtigen Amt auf und unterstützt als "zuverlässiger Mitstreiter Adenauers" die starke Anlehnung der Bundesrepublik an die USA, die Wiederbewaffnung und die Nato-Mitgliedschaft. Nachdem Carstens 1955 in die CDU eingetreten ist, folgt eine rasante Parteikarriere. 1972 wird er in den Bundestag gewählt, schon ein Jahr später führt der Parlamentsnovize die Unionsfraktion. Szatkowski beschreibt Carstens' Karriere sehr ausführlich, während seine Amtszeit als Bundespräsident (1979 bis 1984) nur ein Fünftel der Biografie ausmacht.
Mit Karl Carstens wird erstmals ein Bundespräsident aus der Opposition heraus gewählt. Im Bundestag verfügt 1979 die sozialliberale Koalition unter Helmut Schmidt zwar noch über eine Mehrheit, aber die wahlentscheidende Bundesversammlung wird von der Union dominiert.
Zu den lesenswertesten Passagen gehört der Vergleich von Carstens? Amtsführung mit der seiner vier Vorgänger Heuss, Lübke, Heinemann, Scheel und seinem Nachfolger von Weizsäcker. Der Autor lässt sich dabei von der Frage leiten, wie politisch die Präsidenten ihr Amt ausgeübt haben.
Im Januar 1983 fällt Carstens' wichtigste Entscheidung: Er löst den Bundestag auf, nachdem Helmut Kohl die Regierung Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt hatte und durch eine "unechte Vertrauensfrage" Neuwahlen herbeiführen will. Seine Entscheidung war juristisch umstritten, denn die Union verfügte nach dem Seitenwechsel der FDP durchaus über eine auskömmliche Mehrheit.
Szatkowski untersucht auch die Reden von sechs Bundespräsidenten zu Schlüsselereignissen der jüngsten deutschen Geschichte, wie dem 20. Juli 1944, dem 8. Mai 1945 und dem 17. Juni 1953. Carstens zeigt sich dabei als Fürsprecher einer konservativ geprägten "geistig-moralischen Wende". Geschichtsbewusstsein begreift Carstens als Quelle nationaler Identität, gern redet er von Heimat, Vaterland und Nation. Nicht zuletzt jene 60 Tage, während in denen er die Bundesrepublik zwischen Ostsee und Alpen durchwandert, die Stimmungslage erkundet und die Liebe zur Heimat fördern will, bleiben als "Markenzeichen seiner Amtsperiode" in Erinnerung.
Karl Carstens. Eine politische Biografie.
Böhlau Verlag, Köln 2007; 577 S., 39,90 ¤