Um die Jahreswende 2006/2007 mussten die Leser der Wochenzeitung "Die Zeit" den irritierenden Eindruck gewinnen, als stünde das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik vor einem tief greifenden Wandel. Auslöser dieses Wandels schien ausgerechnet der Bundespräsident zu sein, dessen Amt - gemessen an der mitihm verbundenen Macht - zu den harmlosesten gehört, die in der Bundesrepublik zu vergeben sind. "Eigentlich ein unmögliches Staatsamt", so der Bonner Verfassungsrechtler Josef Isensee, "dem Protokoll nach das höchste, ist es das ärmste der Kompetenzausstattung nach". 1 Mit Bundespräsident Horst Köhler aber - so suggerierten die Journalisten Matthias Geis und Bernd Ulrich - würde eine neue APO mobil machen, die die politischen Geschäfte der Großen Koalition in Berlin gehörig aufmischt. 2 Zum wiederholten Mal in seiner Amtszeit weigerte sich der Bundespräsident, ein parlamentarisch ordnungsgemäß zustande gekommenes Gesetz auszufertigen. 3 Diese überraschende Renitenz wurde sogleich dahin gehend interpretiert, dass Köhler sich zum machtvollen Opponenten und ernsthaften Gegenspieler der regierenden Mehrheit in Gestalt einer Großen Koalition aufgeschwungen habe.
Im Jargon der Politikwissenschaft ausgedrückt: Der Bundespräsident wurde zu einem echten "nachträglichen und fallabhängigen" 4 Vetospieler, den die zum Regieren beauftragte Regierungsmehrheit nicht mehr einfach absorbieren konnte. Auch der um möglichst genaue Systematisierung und Typologisierung bestimmter Systemmerkmale bemühten Politikwissenschaft ist diese durch Köhler vermeintlich herbeigeführte Veränderung der mehrheitsbestimmten Funktionslogik des parlamentarischen Regierungssystems natürlich nicht verborgen geblieben. Durch diesen politischsten Bundespräsidenten in der Geschichte der Bundesrepublik könnte etwa angenommen werden, dass das parlamentarische Regierungssystem "anti-majoritär hybridisiert" wird und sich durch das präsidiale Vetorecht der Ausfertigungsverweigerung gar "sektoral präsidialisiert" - mithin würde es dem Typus semi-präsidentieller Regierungssysteme wie in Frankreich näher kommen. 5
Man kann zwar durchaus mit den guten Argumenten Winfried Steffanis behaupten, diesen Systemtypus gäbe es gar nicht. 6 Doch wenn man sich auf dieses Modell einlässt und seinen Erfinder Maurice Duverger 7 beim Wort nimmt, dann lässt sich ein parlamentarisches Regierungssystem jedenfalls dann als semipräsidentiell bezeichnen, wenn der direkt gewählte Staatspräsident über "quite considerable powers" verfügt. Nun ist der Bundespräsident zwar nicht direkt vom Volk gewählt, weshalb eines der wichtigsten Kriterien eines präsidentiellen oder semi-präsidentiellen Systems nicht erfüllt ist - könnte es aber nicht sein, dass der Bundespräsident mit seinem Prüfungsrecht ein echtes Vetorecht besitzt und er insofern doch über "quite considerable powers" verfügt? Offensichtlich legitimiert sich diese Macht des Staatsoberhauptes weniger über den demokratischen input - den die eigentümliche, den Bundespräsidenten wählende Bundesversammlung auch kaum zu erbringen vermag -, sondern über seine output-Funktion, die der wissenschaftlichen Diskussion in ihrer ganzen Ausdifferenziertheit bis in die jüngste Zeit hinein aber eher verborgen geblieben ist.
Die eben nur kurz angerissenen Thesen zur sektoralen Präsidialisierung des parlamentarischen Regierungssystems machen eine gewisse analytische Unsicherheit deutlich, mit der heute dem Amt des Bundespräsidenten begegnet wird. Tatsächlich fügt sich dieses Amt nicht besonders geschmeidig in die gängigen Typen der Regierungslehre. Für die Funktionsfähigkeit eines parlamentarischen Regierungssystems ist diese Figur im Grunde verzichtbar - wie man übrigens schon mit Blick auf die Regierungssysteme der Bundesländer sehen kann, die allesamt ohne einen solchen Präsidenten auskommen. 8 Umgekehrt war und ist dessen Existenz auf Bundesebene von Staatsrechtslehre und Politikwissenschaft jedenfalls solange gut zu verschmerzen, solange man sich einreden konnte, im Grunde sei der Bundespräsident - bezogen auf die realen politischen Machtverhältnisse und den tatsächlichen Regierungsprozess - kaum mehr als eine "quantité negligiable", eine Randfigur, die sich weitgehend aufs Repräsentieren beschränkt und auch beschränken sollte. Dementsprechend zurückhaltend und defensiv wurde das Amt und seine Funktionen wissenschaftlich beschrieben.
Die jüngsten Irritationen über das Amt des Bundespräsidenten entzünden sich an seinem Recht, Bundesgesetze vor deren Ausfertigung auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Dieses Prüfungsrecht bietet hier den Anlass, die Funktionen des Bundespräsidenten aus Sicht gängiger verfassungsrechtlicher und politikwissenschaftlicher Erklärungsansätze genauer zu hinterfragen. Im Anschluss daran soll die etwas überspitzt formulierte Frage beantwortet werden, ob dieses Amt unverzichtbar oder überflüssig ist. So ist diese Frage jedoch noch zu allgemein gestellt und wird daher um die folgende zu überprüfende Hypothese ergänzt: Ist das Amt und das mit ihm verbundene Prüfungsrecht nicht vor allem deshalb doch unverzichtbar, weil derBundespräsident zum (einspringenden) Hüter der Verfassung wird, wenn und soweit der Weg zu einer abstrakten Normenkontrolle unter den Bedingungen der Großen Koalition verbaut ist? 9
Könnte es nicht sogar sein, dass der Bundesgesetzgeber in antizipierender Reaktion auf die drohende Ausfertigungsverweigerung durch den Bundespräsidenten im legislativen Prozess mehr verfassungsrechtliche Sorgfalt und Umsicht walten lässt als ohne ein ex post zur Intervention bereites - und berechtigtes - Staatsoberhaupt? 10 Insofern könnte der Bundespräsident seiner im Grundgesetz angelegten Vorbeugefunktion 11 unter den Bedingungen der Großen Koalition am besten gerecht werden, gerade weil und soweit er sein Prüfungsrecht auch effektiv ausübt.
Will man über das Amt des Bundespräsidenten unter funktionalen Gesichtspunkten Genaueres wissen, erfährt man von der Staatsrechtslehre mehr als von politikwissenschaftlichen Abhandlungen zum parlamentarischen R e g i e r u n g s s y s t e m der B u n d e s r e p u b l i k. Grundsätzlich gilt aber hier wie dort, dass das Modell der parlamentarischen Demokratie dem Bundespräsidenten als "einem Staatsoberhaupt, das nicht zugleich Regierungschef ist, im Spiel der Kräfte und Gegenkräfte keinen natürlichen, quasi systemtragenden Platz" 12 einräumen kann. Meist ist daher von staatsnotariellen und repräsentativen Funktionen die Rede, zuweilen auch von einer "Reservefunktion". 13 Der Bundespräsident nimmt gleichwohl bei allen Schwierigkeiten hinsichtlich seiner exakten Funktionsbestimmung in funktionaler und gewaltenteiliger Verschränkung mit anderen Organen an der Ausübung der Staatsgewalt teil, und zwar aus einer eigenen Verfassungsposition heraus ergänzend und unterstützend. Aus der "Kompetenznot" des Bundespräsidenten macht die Staatsrechtslehre gerne eine "Integrationstugend": dem Präsidenten bleibt immerhin die Macht des Wortes, mit dem er - gewissermaßen smendianisch - tatkräftig an der Integration des bundesrepublikanischen Gemeinwesens mitwirken soll: "Ob er will oder nicht, er muss reden, reden, reden, im kleinen und im großen Kreise, auf nationaler und auf internationaler Bühne, zu Festen und zu Trauerfällen." 14 Ulrich Scheuner hat die Möglichkeiten, die sich dem Bundespräsidenten in seinem Amt bieten, salbungsvoller beschrieben: "Ein solches Amt gewährt seinem Inhaber eine der großen Möglichkeiten, die ein Menschenleben erhalten kann, sich als Politiker und Staatsmann an einer großen Aufgabe voll zu entfalten, aber auch als Persönlichkeit sich in einem Einfluss auf die Gesamtheit zur Geltung zu bringen." 15
Allerdings existiert mit dem Prüfungsrecht in Art. 82 GG eine Kompetenz des Bundespräsidenten, die in der staatsrechtlichen Diskussion erhöhte Aufmerksamkeit erfahren hat 16 . Dies ist eine Befugnis legislativer Art, weil die Gesetzgebung erst durch die Ausfertigung des Gesetzes abgeschlossen werden kann - ohne diesen Akt liegt lediglich ein parlamentarischer Mehrheitsbeschluss vor. Unstrittig ist in der Staatsrechtslehre, dass der Bundespräsident bei der Ausfertigung von Bundesgesetzen ein formelles Prüfungsrecht besitzt. Unklar ist hingegen, ob er ein materielles Prüfungsrecht beanspruchen kann. Soweit ihm dies eingeräumt wird, insistieren manche Staatsrechtler - und die meisten bisherigen Bundespräsidenten - aber darauf, dass sich dieses Prüfungsrecht auf eine Evidenzkontrolle beschränken sollte. 17 Dies bedeutet, dass der Bundespräsident nur in jenen Fällen die Ausfertigung verweigern solle, in denen ein evidenter Verfassungsverstoß ("zweifelsfrei und offenkundig") vorliegt, nicht jedoch bei bloßen verfassungsrechtlichen Zweifeln. Unter rein verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist die - zunächst ganz sympathisch klingende - Reduktion des Prüfungsrechts auf eine Evidenzkontrolle aber nicht recht überzeugend. 18
Die Feststellung, dass ein Gesetz verfassungswidrig ist, kann immer nur das Resultat einer eingehenden, umfassenden und gewissenhaften Prüfung sein und ist niemals einfach "evident", zumal die Praxis zeigt, dass der Gesetzgeber höchst selten ein "zweifelsfrei" verfassungswidriges Gesetz erlässt, sich mithin in der Regel auch immer Argumente für die Verfassungskonformität eines strittigen Gesetzes anführen lassen. Der Bundespräsident würde seine verfassungsrechtlichen Kompetenzen somit keinesfalls überschreiten, "wenn er die Ausfertigung eines Gesetzes schon dann ablehnen würde, wenn er aufgrund sorgfältiger und gewissenhafter Prüfung (...) zur Schlussfolgerung gelangte, dass das Gesetz verfassungswidrig sei, ohne dass es auf Offenkundigkeit ankommt." 19 Geboten ist daher sogar eher eine Prüfungspraxis, "die davon ausgeht, dass der Präsident (...) bereits dann die Ausfertigung zu verweigern hat, wenn sich für die Annahme der Verfassungswidrigkeit die deutlich besseren Gründe anführen lassen". 20
Die Politikwissenschaft steht diesen staatsrechtlichen Überlegungen zum Prüfungsrecht des Bundespräsidenten eigentümlich reserviert gegenüber und reflektiert diese kaum. 21 Generell wird hier gerne hervorgehoben, dass jede Regierungsmehrheit sich einem tief gestaffelten System von institutionellen Checks and Balances gegenüber sieht, das als Schranke parlamentarischer Mehrheitsherrschaft dient und auch dienen soll. Doch für gewöhnlich wird der Bundespräsident nicht als Bestandteil jenes tief gestaffelten Systems identifiziert, sondern als eine Institution wie der Bundesrat und das Bundesverfassungsgericht. Einmischungen des Bundespräsidenten in den legislativen Prozess auf Basis des Ausfertigungsverweigerungsrechts werden daher unisono als "systemwidrig" 22 abgelehnt, weil "Spannungen" zwischen einem Bundespräsidenten und der Regierungsmehrheit "mit der Logik einer parlamentarischen Demokratie (...) kaum vereinbar" 23seien.
Tatsächlich lässt sich die Reinheit des parlamentarischen Regierungssystems nur behaupten, wenn dem Bundespräsidenten eine lediglich untergeordnete Rolle eingeräumt wird und er über sein Gesetzesausfertigungsrecht nicht zu einem "Parteigänger einer Partei" in politischen Konflikten der Staatsorgane wird. Aus ähnlichen Gründen muss auch die - oftmals undifferenziert geforderte - legitimatorische Aufwertung des Bundespräsidenten durch dessen Direktwahl abgelehnt werden, weil sie ihn in eine Konkurrenzsituation zu dem ja nur indirekt gewählten Bundeskanzler stellen würde, die dem parlamentarischen Regierungssystem kaum zuträglich wäre. 24
Damit muss aber keineswegs das letzte Wort aus politikwissenschaftlicher Sicht gesprochen sein. Bei der Beurteilung des Problems müsste es indessen zuallererst darauf ankommen, welcher demokratietheoretische Maßstab zugrunde gelegt wird. Empirisch spricht wenig dafür, das politische System quasi nur unter dem Blickwinkel eines Westminster-Systems zu begutachten, da schon die gewaltenteilige Mischverfassung des Grundgesetzes mit seinen durchaus eigentümlichen checks and balances Konsenszwänge institutionalisiert, die mit diesem reinen Modell kaum in Einklang zu bringen sind. Aus diesem Grund müssen andere Maßstäbe gesucht werden, wobei vor allem folgendes zu beachten ist: Legitimationstheoretisch müssen Macht und Gegenmacht im gewaltenteiligen System der Bundesrepublik keineswegs immer durch majoritäre demokratische Rückkopplung legitimiert sein. Wichtiger ist aus Sicht der Gewaltenteilungslehre vielmehr, dass sich Macht und Gegenmacht wechselseitig in Schach halten und kontrollieren können. Nicht jede öffentliche Herrschaftsausübung muss dabei durch Legitimationsketten direkt auf das Volk zurückgeführt werden. 25 Oft ist dies gerade nicht der Fall, wie schon die Entscheidung der Verfassungsmütter und -väter für ein machtvolles, vor allem auch die Minderheiten schützendes Verfassungsgericht und den die Eigenstaatlichkeit der Länder garantierenden und sich der Logik nationaler politischer Mehrheiten gelegentlich entziehenden Bundesrat im bundesdeutschen Beteiligungsföderalismus indiziert.
In diese gewaltenteilige und letztlich doch outputorientierte Logik als ergänzendes und korrigierendes Moment neben der inputorientierten Logik des parlamentarischen Regierungssystems reiht sich dann aber auch der Bundespräsident ein, der - so gesehen - auf eine stärkere demokratische Legitimation beispielsweise durch seine Direktwahl aber auch getrost verzichten kann, weil er sich schlicht durch andere Leistungen - gewissermaßen "kompensatorisch" - zu rechtfertigen vermag. 26 Daher dürfte das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten zwar ein systemfremdes Element des parlamentarischen Regierungssystems sein, gerade weil hier seine Funktion über das "stilgebende" und "repräsentative" hinausgeht. 27 Dort ist dieses Recht aber falsch verortet, weil das parlamentarische Regierungssystem - und das wird von Politikwissenschaftlern nur zu gerne übersehen - nur ein konstitutiver Bestandteil des demokratischen Verfassungsstaats ist, der schon durch die nicht immer spannungsfreie Zusammenführung von Demokratie- und Verfassungsprinzip ein komplett anderes Gesamtsystem konstituiert als es bei einem reinen parlamentarischen Regierungssystem à la Westminster beobachtet werden kann. Doch im Widerspruch zum demokratischen Verfassungsstaat steht das Ausfertigungsverweigerungsrecht gerade nicht, sondern steht mit ihm in bestem Einklang.
Nur wenn diese Zusammenhänge übersehen werden, mag man es als Gefahr wahrnehmen, dass der Bundespräsident durch die Wahrnehmung seiner Prüfungskompetenz in eine stärkere Konkurrenzsituation zum Amt des Bundeskanzlers und dessen parlamentarisch verantwortliche Regierung kommen und hierüber sogar zum institutionellen Vetospieler werden könnte, der ähnlich wie der Bundesrat die Gesetzgebung der Regierungsmehrheit blockiert. Gesehen wird hier nicht - und exakt dies ist eben auch konstitutiv für den demokratischen Verfassungsstaat -, dass der Bundespräsident gerade nicht unbedingt das "letzte Wort" 28 hat, wenn er ein Gesetz nicht ausfertigt. Karlsruhe kann, nachdem es im Wege des Organstreitverfahrens angerufen worden ist, seinerseits das Veto des Präsidenten wieder vetoisieren, wenn sich herausstellt, dass der Bundespräsident seinen Ermessensspielraum überschritten hat und z.B. ein Gesetz aus rein politischen Gründen ablehnt. 29 Hier kommt übrigens ein institutionelles Gleichgewichtsdenken zum Ausdruck, wie es trotz aller systematischen Ungereimtheiten durchaus typisch für das Grundgesetz ist: Unter den vom Grundgesetz gewollten Bedingungen werden alle Beteiligten - Gesetzgeber und Präsident - umsichtig und vorsichtig agieren, da ersterer die politische Niederlage einer Ausfertigungsverweigerung befürchtet, während letzterer die verfassungsrechtliche Niederlage im Wege des Organstreitverfahrens in Karlsruhe antizipieren muss, wenn er sein Prüfungsrecht unangemessen wahrnimmt. Gegenüber dem wichtigsten Hüter der Verfassung, dem Bundesverfassungsgericht als weiterem obersten Verfassungsorgan, steht der Bundespräsident nur in der "Vorhand", während der "Vorrang" im Zweifel immer Karlsruhe zukommt. 30 Es liegt daher im institutionellen Eigeninteresse des Bundespräsidenten, behutsam mit diesem Instrument umzugehen.
Zwar ist die Erkenntnis, dem Bundespräsidenten keine besondere Rolle als "Hüter der Verfassung" zuzuschreiben, gängige Münze. Mit dem GG wurde diese - wie man weiß ja durchaus missbrauchsanfällige - Funktion bewusst fallen gelassen. Neben dem Bundesverfassungsgericht brauchte man keinen besonderen Hüter der Verfassung mehr - vor allem keinen, der sich machtvoll über das Parteiengezänk erheben und den vermeintlich wahren Willen des Volkes zu repräsentieren für sich in Anspruch nehmen könnte ("volonté générale"), nur um unter dieser demokratietheoretisch höchst zweifelhaften Prämisse diktatorisch am Parlament vorbeiregieren zu können, in dem - so meinten die zahlreichen Parlamentskritiker in der Weimarer Republik - der zur politischen Einheitsbildung kaum zu gebrauchende, weil dissonante und vielstimmige "volonté de tous" dominierte. Und doch könnte es sich lohnen, die Kategorie des "Hüters der Verfassers" wieder aus der Mottenkiste der Geschichtsschreibung um die gescheiterte Weimarer Reichsverfassung zu holen und sie auf den Bundespräsidenten anzuwenden.
Was spricht dagegen, dem Bundespräsidenten einzuräumen, als einspringender Hüter der Verfassung zu fungieren, dort wo es nötig ist? Wenn man einerseits annimmt, dass der Bundespräsident zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit per Gesetz berufen und sogar verpflichtet ist, 31 dabei andererseits dessen Funktionszuschreibung als "Hüter der Verfassung" vehement ablehnt, 32 verstrickt man sich in logische Widersprüche. Wenn der Bundespräsident nicht - gemeinsam mit dem Bundesverfassungsgericht - die Aufgabe des Hütens der Verfassung hat, warum soll er dann die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen prüfen? In der Tat ist dies ja seine Pflicht, denn: "Die Ausfertigung eines offenkundig verfassungswidrigen Gesetzes wäre eine Pflichtverletzung, die nach Art. 61 GG sanktioniert werden könnte". 33 Da dieser Prüfungsakt aber auch die Konsequenz haben kann, dass ein Gesetz nicht zustande kommt, muss er funktional irgendwie legitimiert sein. Wie schon gezeigt, verlangt die Funktionslogik des parlamentarischen Regierungssystems jenes Prüfungsrecht gerade nicht. Aus welcher Funktion heraus aber ließe sich dann logisch begründen, dass der Bundespräsident Gesetze, hinter denen eine parlamentarische Mehrheit steht, gegebenenfalls verhindert, wenn zugleich das Argument des Verfassungshütens abgelehnt wird? Hinter der reservierten Haltung gegen die Funktionszuschreibung als "Hüter der Verfassung" stehen kaum logische Argumente, sondern eher intuitive Bedenken, die sich aus den historischen Erfahrungen mit dem von Carl Schmitt äußerst expansiv interpretierten Theorem des Hüters der Verfassung 34 und dessen unselige exklusive Anwendung auf die Figur des Weimarer Reichspräsidenten verbinden, der dann aber in der Weimarer Verfassungspraxis von keiner anderen institutionellen Gegenmacht mehr wirksam eingehegt werden konnte.
Diese Bedenken gegen die Funktionszuschreibung des "Hüters der Verfassung" können heute nicht mehr überzeugen, da nach Bonn auch Berlin nicht Weimar ist. Der Bundespräsident, dem die Hüterfunktion - kumulativ mit dem Bundesverfassungsgericht und nicht exklusiv - eingeräumt werden kann, wird in der Berliner Republik kaum die Gelegenheitsstrukturen vorfinden, die ihm eine Machtdominanz im ausgeklügelten und ausbalancierten deutschen Regierungssystem ermöglichen würden. Ein Art. 48 Weimarer Reichsverfassung (WRV) existiert im GG nicht - aus dem Bundespräsidenten kann kaum ein regierendes Staatsoberhaupt werden, das am Parlament vorbei regiert. Grundsätzlich spricht gleichwohl nichts dagegen, dass das Staatsoberhaupt auch in der parlamentarischen Demokratie eine wichtige Rolle einnehmen kann, indem es das Kräftespiel von Parlament und Regierung mit überwacht und gegebenenfalls eingreift, wenn die Verfassung sonst Schaden nehmen könnte - natürlich immer nur im Rahmen der ihm von Verfassungs wegen gegebenen Möglichkeiten, niemals aber extrakonstitutionell. Diese Funktionszuschreibung als "Mithüter der Verfassung" ergänzt neuere verfassungsrechtliche Überlegungen, in denen dem Bundespräsidenten als "Kustos"-Funktion die Rolle eines "beschützenden Wächters des politischen Prozesses" 35 zugeschrieben wird. Dieser steht insofern doch über den klassischen Gewalten als eine Gewalt "sui generis" - auch und gerade weil er funktional keiner der anderen Gewalten exklusiv zugeordnet werden kann, sondern an allen Anteil hat und in beinahe allen Funktionen mitwirkt.
Was die reale Macht des Bundespräsidenten anbelangt, gibt es nichts zu befürchten. Er bliebe weiterhin höchstens Sand im Getriebe - und das aber nur in ausgesuchten Fällen, in denen er das qua Amt verantworten kann und auch muss, gegebenenfalls sogar gegenüber dem Bundesverfassungsgericht. Auf Problembeschreibungen, die aus lauter typologischer Verlegenheit darauf hinauslaufen, das Regierungssystem in die Nähe eines semi-präsidentiellen Regierungssystems rücken zu müssen, könnte daher getrost verzichtet werden, und schließlich wäre die so definierte Rolle des Bundespräsidenten als "einspringender Verfassungshüter" auch normativ nicht zu beanstanden. Vom Boden des Grundgesetzes müssten wir uns keineswegs entfernen, denn dort ist die Hüterfunktion des Bundespräsidenten als oberstes Verfassungsorgan durchaus angelegt, man muss sie nur empirisch erkennen und normativ anerkennen wollen. Der Bundespräsident ist insofern doch eine "pouvoir neutre" 36 über den Parteien, als er nicht direkt gewählt wird und sich damit weitgehend dem parteipolitischen Wettbewerb entzieht. Exakt deshalb eignet er sich durchaus für das Mithüten der Verfassung - insbesondere unter den Bedingungen der Großen Koalition, weil ihm beim eventuellen Einlegen eines Vetos in dieser Konstellation kaum der Vorwurf gemacht werden kann, er handele aus einseitigem parteipolitischen Kalkül.
Insofern wird der Bundespräsident seinerunter prozessual-dynamischen Gesichtspunkten im GG zu erkennenden "Vorbeugefunktion" 37 vor allem unter den Bedingungen der Großen Koalition gerecht. Horst Köhler wird - so gesehen - zum (einspringenden) Hüter der Verfassung, gerade dort, wo der Weg zu einer abstrakten Normenkontrolle unter den Bedingungen der Großen Koalition verbaut ist. Für diese Sichtweise spricht auch, dass dort, wo immerhin noch die Möglichkeit zur Verfassungsbeschwerde besteht, der Bundespräsident von seinem Ausfertigungsverweigerungsrecht bisher gerade keinen Gebrauch gemacht hat, sondern nach der Formulierung seiner schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Bedenken zu einer solchen Verfassungsbeschwerde durch betroffene Bürger aufgefordert hat. Dies war der Fall beim "Luftsicherheitsgesetz": Köhler konnte das Gesetz ausfertigen, weil er wusste, dass der "eigentliche" Hüter der Verfassung schon bald zum Einsatz kommen würde. Gerade hier bestand kein Anlass für ihn "einzuspringen".
Das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten, welches sein Recht auf Ausfertigungsverweigerung einschließt, lässt sich kaum einspurig mit der Funktionslogik des parlamentarischen Regierungssystems erklären. Auch die Ansicht, der Bundespräsident wäre dann, wenn er von seinem Ausfertigungsverweigerungsrecht Gebrauch macht, ein systemfremdes und antimajoritäres Element im gut geölten Getriebe des auf dem Dualismus von Regierungsmehrheit und Opposition basierenden parlamentarisch-demokratischen Regierungssystems lässt sich nicht mehr halten. Die Wirklichkeit der bundesrepublikanischen Regierungspraxis stellt sich - zumal unter der Bedingung der Großen Koalition - komplett anders dar, wie gezeigt werden konnte. Auch normativ spricht gegen die Hüterfunktion des Bundespräsidenten nichts, vor allem dann nicht, wenn man sich der seit Aristoteles bekannten Vorzüge von Mischverfassungen bewusst ist. "Ambition must be made to counteract ambition", das wussten auch die Verfasser der Federalist Papers nur zu genau.
Die Bundesrepublik ist eben nicht nur als parlamentarisches Regierungssystem zu klassifizieren, sondern als demokratischer Verfassungsstaat, in dem das parlamentarische "Durchregieren" - glücklicherweise - nur einen Ausschnitt der Verfassungspraxis ausmacht und manchmal eben auch von Verfassungs wegen durch institutionelle Gegenmächte ausgebremst werden muss. Der von institutionellen Gegenmächten zuweilen eingestreute Sand ins Getriebe des parlamentarischen Regierungssystems ist sogar notwendig. Und unter diese institutionellen Gegenmächte hat sich in jüngster Zeit eben auch der Bundespräsident gemischt - übrigens keineswegs zum Schaden des demokratischen Verfassungsstaates.
1 Josef Isensee,
Braucht die Republik einen Präsidenten?, in: Neue Juristische
Wochenschrift (NJW), (1994) 20, S. 1329ff.
2 Vgl. Matthias Geis/Bernd Ulrich, Die
neue APO macht mobil, in: Die Zeit vom 18. 1. 2007, S. 4.
3 Vgl. zu den vorangegangenen
Fällen Johannes Rau, Vom Gesetzesprüfungsrecht des
Bundespräsidenten, in: Deutsches Verwaltungsblatt, (2004) 1,
S. 1 ff.
4 Michael Stoiber, Gewaltenteilung,
Machtteilung und das Vetospieler-Konzept, in: Zeitschrift für
Politikwissenschaft, 17 (2007), S. 33f.
5 Vgl. kritisch zu dieser Interpretation
Roland Lhotta, Der Bundespräsident als
außerparlamentarische Opposition? Überlegungen zur
Performanz bundesdeutscher Konsensdemokratie im parlamentarischen
Bundesstaat, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (Zparl),
(i.E.), S. 3, S. 13ff.
6 Vgl. Winfried Steffani,
Parlamentarische und Präsidentielle Demokratie. Strukturelle
Aspekte westlicher Demokratie, Opladen 1979.
7 Vgl. Maurice Duverger, A new Political
System Model: Semi-Presidential Government, in: European Journal of
Political Research, 8 (1980), S. 165 - 187.
8 Vgl. Frank Decker, Die
Regierungssysteme in den Ländern, in: Ders. (Hrsg.),
Föderalismus an der Wegscheide? Optionen und Perspektiven
einer Reform der bundesstaatlichen Ordnung, Wiesbaden 2004, S.
169ff., S. 183.
9 Als Antragsteller kommt gem. Art. 93
Abs. 1 Nr. 2 GG neben der Bundesregierung und einer Landesregierung
nur ein "Drittel der Mitglieder des Bundestages" in Betracht - ein
Quorum, das im Falle einer Großen Koalition kaum erreicht
werden kann.
10 Vgl. Georg Vanberg, Abstract
Judicial Review, Legislative Bargaining, and Policy Compromise, in:
Journal of Theoretical Politics, 10 (1998), S. 299ff.
11 Vgl. Xuewu Gu, Die
"Vorbeugefunktion" des Bundespräsidenten, in: ZParl, 30
(1999), S. 761 - 771.
12 Martin Nettesheim, Amt und Stellung
des Bundespräsidenten in der grundgesetzlichen Demokratie, in:
Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von
Josef Isensee/Paul Kirchhof, Heidelberg 2005(3), S. 1031ff., Rn.
1.
13 Werner Heun, Die Stellung des
Bundespräsidenten im Lichte der Vorgänge um die
Auflösung des Bundestages, in: Archiv des öffentlichen
Rechts (AöR), 109 (1984), S. 13ff., S. 15f.
14 J. Isensee (Anm. 1), S. 1329.
15 Ulrich Scheuner, Das Amt des
Bundespräsidenten als Aufgabe verfassungsrechtlicher
Gestaltung, Tübingen 1966, S. 9.
16 Vgl. Hartmut Maurer, Staatsrecht I.
Grundlagen - Verfassungsorgane - Staatsfunktionen, München
2007(5), S. 553ff.
17 So auch - unter Verweis auf das
entsprechende Schrifttum - J. Rau (Anm. 3), S. 7.
18 Allerdings sollte nicht
übersehen werden, dass das BVerfG quasi die Möglichkeit
eines "chirurgischen Eingriffs" besitzt, indem es ein Gesetz nur in
Teilen als verfassungswidrig einstufen und damit eine
Teilnichtigkeit feststellen kann, während der
Bundespräsident nur das Gesetz insgesamt ausfertigen oder
insgesamt ablehnen muss. Wenn ein Gesetz aufgrund eines eher
unbedeutenden Teils verfassungswidrig ist, kann es für den
Bundespräsidenten daher sinnvoll sein, das Gesetz dennoch
auszufertigen, zumal wenn die nachträgliche Möglichkeit
der Klage beim BVerfG besteht.
19 M. Nettesheim (Anm. 12), Rn.
46.
20 Ders., Die Aufgaben des
Bundespräsidenten, in: J.Isensee/P. Kirchhof (Anm. 12), S.
1073ff. Rn. 39.
21 Als rühmliche Ausnahme Werner
Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der
parlamentarischen Demokratie, Köln-Opladen 1970, S.
255ff.
22 Klaus von Beyme, Das politische
System der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004(10), S.
306.
23 Wolfgang Rudzio, Das politische
System der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2006(7),
S.299.
24 Vgl. Frank Decker, Hände weg
vom Präsidenten!, in: Berliner Republik, 6 (2004), S. 12ff.,
S. 14.
25 Vgl. Ernst-Wolfgang
Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in:
Ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur
Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt/M. 1992(2),
S. 289ff.
26 Vgl. Wilhelm Hennis,
Legitimität. Zu einer Kategorie der bürgerlichen
Gesellschaft, in: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.),
Legitimationsprobleme politischer Systeme (PVS-Sonderheft 7),
Opladen 1976, S. 9 - 38.
27 K. von Beyme (Anm. 22), S.
306.
28 Peter Graf Kielmansegg, Die Instanz
des letzten Wortes. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung
in der Demokratie, Stuttgart 2005.
29 Zu einem solchen Fall ist es in der
Geschichte der Bundesrepublik noch nie gekommen. Die Weigerung des
Bundespräsidenten Heinemann, das 1969 beschlossene
"Architektengesetz" auszufertigen, hätte jedoch beinahe eine
Organklage nach Art. 93 Abs. 1 GG zur Folge gehabt. Vgl.
Jürgen Hartmann/Udo Kempf, Staatsoberhäupter in
westlichen Demokratien, Opladen 1989, S. 38.
30 H. Maurer (Anm. 16), S. 556.
31 W. Kaltefleiter (Anm. 21), S.
211.
32 Ebd., S. 210f.
33 M. Nettesheim (Anm. 12), Rn.
46.
34 Carl Schmitt, Der Hüter der
Verfassung, Berlin 1996(4).
35 M. Nettesheim (Anm. 12), Rn.
10.
36 Vgl. Karl Doehring, Der Pouvoir
Neutre` und das Grundgesetz, in: Der Staat, 3 (1964), S.
201ff.
37 X. Gu (Anm. 11), S. 770f.