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Die EU soll der Menschenrechtscharta beitreten
Bislang ist es nicht vorstellbar, dass jemand gegen eine Maßnahme der EU-Innen- und Justizminister vor dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof Klage einreicht; etwa gegen den Beschluss, EU-weit die Telekommunikationsverbindungen aller Bürger mindestens ein halbes Jahr zu speichern. Es ist auch nicht möglich, dass ein Betroffener vor den Richtern des Europarats "gegen Festnahmen und Durchsuchungsaktionen durch die EU-Polizei Europol" prozessiert, wie Sabine Leutheusser-Schnarrenberger erläutert. Bisher ist auch nicht drin, so ein anderes von der FDP-Bundestagsabgeordneten geschildertes Beispiel, dass ein in der "schwarzen Liste" der EU aufgeführter Terrorverdächtiger sich zu Unrecht dort vermerkt sieht und in Straßburg vor der höchsten juristischen Instanz auf dem Kontinent die Streichung seines Namens betreibt.
Die liberale Politikerin hofft, dass sich dies nächstes Jahr ändert: Falls dann nämlich die EU nach jahrelangem Hin und Her endlich der Menschenrechtscharta des Europarats beitritt. Die Frühjahrssession der Parlamentarischen Versammlung des Straßburger Staatenbunds, in deren Rechtsausschuss Leutheusser-Schnarrenberger aktiv ist, hat die Tür für einen solchen Schritt jedenfalls weit geöffnet. Nicht nur, dass die paneuropäische Volksvertretung Brüssel in einer Resolution energisch zur Ratifizierung der Konvention auffordert: Unerwartet deutlich hat bei einer Rede vor den Europarats-Abgeordneten auch Angela Merkel einen Beitritt der EU zur Charta angemahnt, für den der Reformvertrag von Lissabon letzte rechtliche Hindernisse aus dem Weg geräumt hat. Und die Stimme der Kanzlerin hat in Brüssel Gewicht.
Im europäischen Rechtssystem existiert eine gravierende Lücke: EU-Bürger können in Straßburg zwar gegen Grundrechtsverletzungen durch nationale Regierungen und Behörden, nicht jedoch durch EU-Instanzen klagen - weil sich jeder einzelne Staat, bislang aber nicht die EU als Ganzes der Menschenrechtskonvention unterworfen hat. Für Leutheusser-Schnarrenberger verspricht der EU-Beitritt zur Charta, "der lange Zeit auch aus politischen Gründen blockiert wurde", den Bürgern einen "echten Mehrwert".
Allerdings zeichnet sich bereits neuer Streit ab: Offen ist, ob die Europarats-Richter auch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs, einer EU-Instanz, überprüfen darf. Ist Straßburg künftig Luxemburg übergeordnet oder nicht? Zu diesem Kompetenzgerangel wälzen an beiden Gerichten schon jetzt Juristen viel Fachliteratur.