Der tschechoslowakische Frühling des Jahres 1968 bedeutete für die 18-Jährige, die in einem Gymnasium in Bratislava Tag für Tag langweilige Stunden unter dem Porträt Antonín NovotnÝs zuzubringen hatte, eine wilde Freude: In der Pause wurde das strenge Dutzendgesicht mit den schmalen Lippen und einer ordentlich gebundenen Krawatte von den Mitschülern heruntergerissen. Im Gekreische und im Gestampfe auf dem Bild unseres Präsidenten auf dem Fußboden des Klassenzimmers wurde ich als Bürgerin geboren. Vorher hatte ich stumpf den Pflichtwortmüll geschluckt: Wir leben in der besten aller Welten und sind auf dem direkten Weg zu einer noch vollkommeneren Gesellschaft. Und die Sowjetunion ist unser Vorbild und allerbester Freund.
Nach der Befreiung der proletarischen Massen durfte es nie mehr einen Aufstand geben, eigene revolutionäre Initiative, in welcher Richtung auch immer, hieß Sabotage. Täglich überschritt ich wie eine Doppelagentin die scharfe Grenze zwischen der Außenwelt und dem Zuhause, wo mir die Mutter ihre Grundsätze des Überlebens beizubringen versuchte: Denke, was du willst, aber sag es nie. Nichts, was hier gesprochen wird, darfst du in der Schule weitererzählen. Das mütterliche Verbot hat - entgegen ihrer Absicht - aus mir eine Schreibende gemacht. Jeder meiner Texte ist immer noch ein Aufbäumen gegen das Gebot des Schweigens und des Nichthandelns.
Der kläglich am Boden zerstörte Präsident hat mir die Entdeckung geschenkt, dass Politik auch 18-Jährigen unbändige Freude bereiten kann. Die Zeit war reif. Noch im Winter hätte man für solch eine Tat mit dem Schulausschluss rechnen müssen, ein paar Jahre davor mit der Einweisung in die Psychiatrie oder in eine Besserungsanstalt. Der politische Frühling, den diese Episode charakterisiert, kam nicht von der Basis her, sondern oben im kommunistischen Apparat wurden Reformen durchgesetzt, die dann die Menschen auf ihre Weise umzusetzen versuchten. Im Frühlingswind, der über die Donauebene wehte, ordnete der herbeigeeilte Schulrektor an, die Splitter zusammenzufegen, und murmelte: Das ist strafbar, der Genosse NovotnÝ ist immer noch Präsident. Aber seine Stimme war dünn und bestätigte, was wir schon wussten: Dem rigiden System ging allmählich die Luft aus. Auf dem Heimweg schmierten wir auf die Mauern vulgär-naive Sprüche wie "Der Präsident ist ein Schwein" und lachten entfesselt. Das Glück war vollkommen, der Anfang der Polis war da, wir benannten Unrecht und Blödheit so, wie wir sie fühlten - emotional und ungeübt in der politischen Wortwahl.
NovotnÝs verbrecherische Biederkeit, mit der die Gesichter der Funktionäre vom Zentralkomitee der KP allgemein geschlagen waren, als kämen sie vom Fließband, stand für repressive Lüge und abtötende Langeweile, die meiner Generation aufgezwungen wurde. NovotnÝs Gesicht herunterzureißen hieß: die Autorität der Väter zu stürzen, die uns die Beatles, das Tragen von langen Haaren und Miniröcken und damit den Anschluss an die Welt am liebsten verbieten wollten. Was wäre geschehen, wenn der in jedem Klassenzimmer und in jedem Büro hängende Präsident attraktiv und jung wie Che Guevara auf dem berühmten Plakat gewesen wäre, das ich später in den WGs der westlichen Linken hängen sah? Die Schönheit eines bärtigen Revolutionärs mit schickem Barett passte zur westlichen Illusion vom Sozialismus, nicht in unsere hässliche Wirklichkeit. Unsere glattrasierten Weltverbesserer redeten monoton, ihre Reden auf KP-Kongressen über eine bessere Zukunft, die sie für uns vorbereiteten, wurden im Parteiorgan "Pravda" (Wahrheit) und im Gewerkschaftsorgan "Práca" (Arbeit) in voller Länge abgedruckt. Wie hätte ich da Journalistin werden wollen? Auf den Geschmack dieses Berufes kam ich in jenen Monaten, die so kurz wie ein Traum waren und mich doch nachhaltig verwandelten.
NovotnÝs Inventargesicht wurde durch das weiche, zwar nicht außergewöhnliche, doch menschlich anmutende Gesicht von Alexander Dubcek ersetzt, der Parteichef geworden war. Mit diesem Gesicht, das nicht in Klassenzimmern aufgehängt wurde, sondern lebendig blieb, kam eine neue Definition der anzustrebenden Gesellschaftsordnung auf - der Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Es war nicht zu überhören, was die neue Ausrichtung implizierte: Der vorherige war ein Sozialismus mit Monstergesicht. Versprechungen einer neuen Utopie gegenüber waren wir misstrauisch oder zumindest vorsichtig geworden, sie waren allzu schrecklich strapaziert worden und könnten wieder eine Täuschung sein. Revolutionär dafür war, dem Monster nun ins Gesicht schauen zu dürfen. Während bei westlichen Linken der Prager Frühling zukunftsorientiert als "dritter Weg" wahrgenommen wurde, als Verheißung einer gerechten Gesellschaft, war das Tauwetter für mich rückwärts- und gegenwartsgerichtet, als Entlarvung der kommunistischen Verbrechen, und darin lag seine Menschlichkeit.
"Pravda" und "Práca" wurden zu Zeitungen. Ich fing an, sie zu lesen, und erfuhr von politischen Prozessen und Arbeitslagern aus den 1950er Jahren sowie von absurden und vertuschten Missgriffen der Planwirtschaft. Es war noch längst nicht Pressefreiheit, aber die Lockerung der Zensur machte diese Blätter zu einer aufregenden Lektüre. Der Frühling 1968 war licht, aber nicht, weil er eine lichte Zukunft entwarf, sondern, weil er die Dunkelheit als dunkel benannte. Das Demütigende, das Unerträgliche der Nachkriegsepoche in der sozialistisch gewordenen Tschechoslowakei bestand in der Lüge - die Verbrechen wurden als Wohltaten für die Menschheit angepriesen, die Geschichte und die Gegenwart waren verfälscht, und das, was uns die Eltern aus ihrer Erfahrung erzählten, falls sie es überhaupt wagten, war ganz anders als die Schullektüre. 1961, als ich elf Jahre alt war, kehrte meine Mutter aus dem Gefängnis zurück. Doch sie sagte nicht, wo sie gewesen war. Und ich hatte verinnerlicht, was sich gehörte, und fragte nicht.
Der Begriff der politischen Freiheit leitet sich für mich vom tschechoslowakischen Tauwetter ab und bleibt mit der Forderung nach Aufklärung der Staatsverbrechen verknüpft. Diese Freiheit heißt, den Blick in den Kerker zu werfen. Erst im Frühling 1968 begann meine Mutter zu erzählen, wie die Gefangenen ihre Gefängniskleidung gebügelt hatten - sie hatten sie die Nacht über unter die Matratze gelegt. Und sie lachte befreit, schließlich hatte sie die Nachricht von ihrer Rehabilitierung erhalten. Das Private ist mit dem Politischen aufs Engste verwoben, das war die Lektion des Lebens in der CSSR. Dass wir, die einfachen Bürger und Bürgerinnen, das Recht haben, das Knäuel zu entwirren, erfuhr ich erst in diesem wundersamen Frühling. Das Vermächtnis des tschechoslowakischen Frühlings bleibt: Wenn ich das Vergangene und das Jetzige klar beim Namen nenne, wird die Zukunft ein aufrichtiges Antlitz haben. Doch bis zur endgültigen Befreiung dauerte es noch erzwungene 21 Jahre des Rückfalls in die Diktatur, euphemistisch normalizácia genannt. Denn nach dem Frühling kam der Sommer.
Am 21. August 1968 um drei Uhr morgens brach eine sowjetische Panzerdivision unter der Leitung des Generals Bandarenko von der ungarischen Grenze nach Bratislava auf. Man sagte den Soldaten, dass sie den Sozialismus gegen tschechoslowakische Konterrevolutionäre und die bundesdeutsche Okkupationsarmee verteidigen würden. Mit dabei war Muhammad Salich. Im Rahmen von groß angelegten Manövern des Warschauer Paktes war er schon zweieinhalb Monate in Ungarn. Er war 18 Jahre alt und zum ersten Mal weg aus seinem usbekischen Heimatdorf. Am Vortag hatte man die alten Kalaschnikows durch das neueste Modell ausgetauscht, und jeder Soldat hatte 120 Patronen, zwei Granaten und eine neue Uniform samt Helm erhalten. Die Essenration wurde erhöht, und es gab sogar Sahne und Schokolade - ein Fest für sowjetische Soldaten. Nun saß Salich auf dem Panzer, beflügelt von einem abenteuerlichen Gefühl, und hielt sich für bedeutend und kühn.
Während seine Einheit über die Donaubrücke auf die slowakische Metropole zufuhr, wartete er furchtlos darauf, dass die Konterrevolutionäre den Konvoi in die Luft sprengen würden. Als sie in die dunklen Straßen eindrangen, sehnte er sich danach, die gemeinen kontry zu bekämpfen, doch aus den Fenstern lehnten sich bloß verschlafene Menschen, die sie in einer slawischen Sprache fragten, wer sie denn um Gottes Willen seien. Rote Armee, antworteten sie stolz, aber die aus dem Schlaf Gerissenen wollten es nicht glauben. Bratislava wurde für Salich eine Stadt mit fassungslosen Gesichtern.
Alles erschien ihm wie im Märchen: eine europäische Stadt mit einer mittelalterlichen Burg, darunter eine Wiese mit hohem Gras in einer warmen Sommernacht. Er war schon damals ein Dichter. Den ersten Schmerz und die erste Scham empfand er, als die Soldaten das Gras zertrampelten. Noch wusste er nicht, dass er ein Besatzer und kein Befreier war, doch nach der Entweihung der Ruhe auf der Wiese fing er an, es zu erahnen. Am Tag darauf sah er zum ersten Mal junge Frauen in Miniröcken, deren lange Beine er nie mehr vergessen sollte. Diese wunderschönen Wesen überbrachten ihm Flugblätter und versuchten ihn ohne Bosheit, doch unermüdlich davon zu überzeugen, dass er Unrecht beging.
Jahrzehnte später erzählt mir Salich, der inzwischen ein Dichter und der bekannteste usbekische Oppositionspolitiker geworden ist, wie ihn dieser ruhige, würdevolle und zähe Widerstand beeindruckt habe. Ich treffe ihn in seinem Frankfurter Exil, und er bittet mit sanfter Stimme die Bevölkerung der Tschechoslowakei und mich um Verzeihung. Ich hätte ihm damals unter der Burg begegnen können. Doch ich war in jenen tragischen Tagen in einem Studentenlager in Frankreich. Unterwegs nach Bordeaux, redeten im Zug zwei französische Arbeiter auf mich ein: "Attention, les Russes." Sie wurden nicht müde, mir ihre Warnung nachzurufen, als ich schon ausgestiegen war. Ich genoss die neue Freiheit des Reisens und war zuversichtlich, dass der Kuss, den der sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Breschnew seinem Kollegen Dubcek auf den Mund gepresst hatte, verbindlich sei. Wieso wussten einfache Menschen in Frankreich über feuchte Küsse aus dem Kreml besser Bescheid?
In Bratislava begriff Salich, dass er kein Russe war, und dass Usbekistan mit seinen Baumwollplantagen eine sowjetische Kolonie war. Paradoxe Gefühle hatte der Besatzer - er pflückte süße Pflaumen und wäre gerne länger geblieben, aber es schauderte ihn zu sehen, wie sein Vorgesetzter während einer Protestdemonstration in Bratislava ein kleines Mädchen erschoss, das auf den Schultern seines Vaters saß. Zum Auslöser für den endgültigen Bruch mit der Sowjetunion wurde für Salich der Sturm auf das slowakische Rundfunkstudio. Sein Spähtrupp drang mit entsicherten Gewehren in die verlassenen Korridore ein, wo sich eine einsame Angestellte mit erhobenen Armen sofort ergab. Da lachte er über sich selbst, sah ein, wie lächerlich er war. Und als sich ein Soldat oben auf das Klavier setzte und mit den Füßen auf der Klaviatur herumtrampelte, war es für Salich, als habe sich durch diese Untat die große russische Kultur, die er so bewunderte, selbst entwertet. Bald darauf verließ er die Tschechoslowakei als usbekischer Nationalist. Bis heute wandert Salich ruhelos durch die Welt als gejagter Feind Nr. 1 des Präsidenten Islam Karimow. Sollte es der Opposition gelingen, Karimows Regime zu stürzen, will mein ehemaliger Okkupant den Frühling nach Taschkent bringen.
Ich eilte aus Frankreich nach Hause, um mich den Panzern zu stellen, doch meine Mutter wartete schon in Wien. Sie wolle westwärts fahren, egal wohin, und der Rest der Familie solle nachkommen. An einem verregneten Septembernachmittag erreichten wir Basel, und Mutter sagte: "Wir emigrieren keinen Meter weiter." Seitdem lebe ich hier. In meinem ersten, in deutscher Sprache verfassten Text beschrieb ich 1980 den Schock über den hinterlistigen Gewaltakt: "Ich begann zu begreifen. Es war wie das Hauen auf eine leere Konservenbüchse (...). Mein Körper war hohl und in ein Frostkorsett gezwängt. Das französische Radio meldete ununterbrochen L'occupation de la Tchéchoslovaquie. Irgendwann überfielen mich unbarmherzige Weinkrämpfe. Die Hülle war abgefallen. Übrig geblieben war ein winziges, gehäutetes Wesen. Und da spürte ich ein leises Kribbeln beim Bewusstsein eines historischen Augenblicks. Meine Heimat zog mich an wie ein bodenloser Abgrund, ich hätte mich gerne blind hineingestürzt. Ich ahnte, dass nicht die Panzer, die vor meinen ungläubigen Augen auftauchten, zum Verzweifeln waren. Das Gefährliche und Lähmende war die Gewissheit, dass es auf dieser von den Panzern gewalzten Erde wieder ein plattes Leben in gegenseitigem Misstrauen und Angst geben würde."
Diese Gefühle sind längst von dem Wissen besänftigt, dass der Große Bruder nach der Samtenen Revolution von 1989 mit Schmach abziehen musste und Tschechien und die Slowakei ins vereinte Europa zurückgekehrt sind.