Gesellschaft
Benjamin R. Barber sieht die westliche Kultur von einem infantilen Ethos unterwandert
Die Klage ist recht alt. Bereits Ende der 1980er-Jahre diagnostizierte der amerikanische Schriftsteller Robert Bly für das Gros der amerikanischen Gesellschaft eine zunehmende Verkindlichung. Sowohl für das Individuum als auch für den sozialen Zusammenhang würde dieser infantilistische Trend weitreichende Konsequenzen haben. Andere wiederum meinten gar, dass der Infantilismus Grundzug der US-Gesellschaft per se sei. So fände man nach Meinung einiger Kulturhistoriker in dem populären amerikanischen Märchen Rip Van Winkle - einer archetypischen Geschichte über einen Tunichtgut, der zwanzig Jahre seines Lebens in einer Berggrotte verschläft - eine essentielle Aussage über regressive Tendenzen im Unterbau der amerikanischen Kultur.
Die Angst davor, dass in jedem US-Bürger ein Kleinkind stecke, hat die amerikanische Gesellschaft seither nicht mehr losgelassen. So verwundert es nicht, wenn sich dieser Tage auch der renommierte Politologe Benjamin R. Barber seine Gedanken über eine Kultur der Kindsköpfe macht. In seinem aktuellen Buch "Consumed!" beschreibt Barber, einer der bekanntesten Vordenker der US-Demokraten, wie der gegenwärtige Konsumkapitalismus aus Verbrauchern Kinder und aus Kindern erwachsene Konsumenten gemacht hat. Für Barber sind es vor allem die PR-Strategen der einflussreichen Global Player, die mit Marketingtricks Vierzig- zu neuen Dreißigjährigen und Dreißig- zu aktuellen Zwanzigjährigen erkoren hätten. In einer Ökonomie der unentwegten Überproduktion, so Barber, sei die Betonung des Peter-Pan-Syndroms notwendige Voraussetzung zur Schaffung neuer Absatzmärkte. Wie der Kinderheld aus Nimmerland fixe die Industrie diese neuen Konsumenten mit einem Versprechen von ewiger Jugend an. Das Ergebnis: Allerorten schaue man auf so genannte Kidults, die auf Rollern und Rollschuhen zur Arbeit fahren oder die mit von Stolz geschwellter Brust die Kleidermarken der Kindheit tragen.
Für Barber ist das jedoch nicht einfach nur Retro-Chic; für Barber ist das Ausdruck eines Bewusstseins, das in zunehmenden Maße die Demokratie gefährdet. So wie einst der von Max Weber diagnostizierte protestantische Ethos dafür verantwortlich gewesen sei, das Amerika zum Schlaraffenland des rationalen Kapitalismus geworden ist, so sieht Barber auch hinter dem postmodernen Konsumkapitalismus eine komplexe Ideologie aufschimmern. Auf fast 400 Seiten versucht er diese als "Ethos des Infantilen" dingfest zu machen. Hieß es im protestantisch geprägten Kapitalismus noch "Ohne Fleiß kein Preis", so heißt es in der neuen Shopping-Ideologie: "Ich will Genuss sofort!"
Dieses Wollen aber ist es, das Benjamin Barber zunehmend Sorge bereitet. Hinter dem Wunsch nach sofortigem Konsum - nach Spiel statt Arbeit und Individualismus statt Gemeinschaft - erblickt er eine Kraft, die in der Lage sein könnte, den Gesellschaftsvertrag auszuhebeln. Das Wollen des Konsumisten nämlich fragt nicht mehr danach, ob das eigene Streben auch gut ist für das Streben der Gemeinschaft. Was dem Konsumismus nützt - spritfressende Geländewagen etwa oder Werbung im Kinderkanal -, ist dem Gemeinwohl nur allzu oft abträglich.
Wenn jeder unter Freiheit nur noch ein Recht auf eine nicht enden wollende Oralphase versteht, dann ist für Barber Schluss mit lustig. In einem zuweilen etwas ermüdenden Philosophenslang versucht er daher zu beweisen, dass radikaler Konsumismus letztlich nur in jenen sozialen Urzustand zurückführt, der den Gesellschaftsvertrag einst ermöglicht hatte: in den "bellum omnium contra omnes" - den Krieg aller gegen alle. Zunehmend seien die westlichen Demokratien von einer Schizophrenie durchzogen; einer Identitätsstörung, die den Verbraucher gegen den Staatsbürger in Stellung gebracht habe. Am Ende stünde dann nicht die Mehrung bürgerlicher Freiheitsrechte, am Ende stünde die Totalisierung des Konsums.
Im Jahr Vierzig nach '68 klingt das ein bisschen wie die Neuauflage von Herbert Marcuses "Eindimensionalem Menschen". Nur sind es bei Barber nicht mehr die dem Kapitalismus angeblich innewohnenden technokratischen Tendenzen, es ist der zur Quengelware verkommene Freiheitsbegriff selbst, der die Demokratie gefährdet. "Wenn jeder Bereich unseres Lebens von der Religion kolonisiert wird", so meint Barber spitzfindig, "dann sprechen wir von einer Theokratie, und wenn jeder Bereich von der Politik vereinnahmt wird, nennen wir das Ergebnis Tyrannei. Wenn es nun der Markt mit seiner aufdringlichen Ideologie des Konsums ist, wieso nennen wir das Ergebnis dann Freiheit?"
Benjamins Barbers Frage zielt ins Mark eines Liberalismusbegriffes, der in der Tat allzu oft die freie Kaufentscheidung mit der bürgerlichen Souveränität verwechselt hat. Ob man hinter dieser Entwicklung jedoch gleich einen neuen Ethos vermuten muss, sei dahingestellt. Schon das Forum in der griechischen Polis war immer beides zugleich: Ort des politischen Diskurses und Marktplatz für Tinnef und Nützliches. Es war das Verdienst Jean-Jacques Rousseaus, die bürgerliche Identität in diesem Sinne in Citoyen und in Bourgeois, in Staatsbürger und Wirtschaftsbürger gespalten zu haben. Diese Doppelrolle gilt es auch heute auszuhalten - unter Marktapologeten wie unter deren schärfsten Kritikern.
C.H. Beck Verlag, München 2008; 393 S., 24,90 ¤