ARMUT
Besonders gefährdet sind Alleinerziehende mit Kindern. Yasmin und Florian sind zwei dieser Kinder
Heute war Yasmin nicht in der Schule. "Angina hat sie", sagt ihre Mutter. Auf dem Wohnzimmertisch stapelt sich ein kleiner Turm mit weißen Schachteln, die Medikamentennamen klingen nach Grippebekämpfung. Der Teenie mit den langen blonden Haaren lümmelt sich auf dem Sofa, eine graugefleckte Katze fest im Griff. Ihr Zwillingsbruder Florian war auch nicht in der Schule, "Migräne", sagt er vom Sessel aus. Es ist drei Uhr am Nachmittag. Die Luft in der Wohnung ist ein wenig drückend, die hellen Spitzenvorhänge sind zugezogen, in der Ecke krächzen zwei Vögel in ihren Käfigen um die Wette. Das Mittagessen ist ausgefallen.
Florian und Yasmin gehören zu den 17,34 Prozent offiziell armutsgefährdeten Kindern in Deutschland. Sie und ihre Mutter leben von Hartz IV, 1.109 Euro im Monat. Ihre Mutter Andrea ist 47, sie ist gelernte Einzelhandelsverkäuferin für WtB, Waren des täglichen Bedarfs. Sie hat Diabetes, seit der Wende ist sie ohne Arbeit. Vom Vater der Zwillinge hat sie sich vor acht Jahren getrennt. Heute wohnen die drei in Berlin-Marzahn, "ein Ghetto", sagt Andrea Thiel, "machen wir uns nichts vor." Manchmal lehnt sie auf dem Fenstersims und blickt ins spärliche Grün.
Marzahn als Großsiedlung war die Idee der DDR-Regierung, der Bau begann Anfang der 70er. Marzahn, das sind viele kasernenartige Wohnzeilen, wie sie im Nordosten Berlins überall stehen, egal in welche Richtung man sich wendet, dazwischen mehrspurige Straßen. Außer einer Trinkbude an der Ecke gibt es hier keine Läden. Einige der Häuserblocks sind bleu und apricot-farben gestrichen - als würde so die Eintönigkeit weniger auffallen. Von den Balkonen wehen vereinzelt kleine Deutschlandfahnen, die EM hat noch nicht begonnen, es ist Vorfreude. Endlich passiert mal wieder was.
Die drei Thiels sind erst im Februar eingezogen. Davor wohnten sie in Hellersdorf, aber dort schimmelten die Wände. 540 Euro kosten die vier Zimmer, 80 Quadratmeter, Hochparterre. Sie bekommt 1.109 Euro Hartz IV im Monat, Miete, Strom, Insulin, Telefon, "300 Euro bleiben zum Leben", sagt Andrea Thiel. Wegen des Umzugs braucht Florian jetzt ein BVG-Ticket, um in die Schule zu kommen, wieder 26 Euro weg im Monat. Seit ein paar Wochen arbeitet Andrea Thiel vormittags vier Stunden für 1,50 Euro Stundenlohn bei BALL e. V., eine ungelenke Abkürzung für "Betreuung arbeitsloser Leute und Lebenshilfe", gefördert von der Agentur für Arbeit und der Stadt. Die paar Stunden bringen 120 Euro zusätzlich im Monat, immerhin. "Sich selber helfen, indem man anderen hilft - anderen helfen, sich selbst zu helfen", prangt fett als Motto auf der Homepage des Vereins.
Es gibt viele Zahlen, die zu erklären versuchen, was deutsche Armut eigentlich ist. Fast zehn Prozent der deutschen Kinder und Jugendlichen wachsen bei Eltern auf, die keinen Job haben, sagt die Europäische Kommission. 2,4 Millionen Minderjährige sind von Armut gefährdet, steht im Dossier von Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen. 1,86 Millionen der unter 15-Jährigen sind bedürftig, sagt der Deutsche Gewerkschaftsbund. 13 Prozent der Bevölkerung haben weniger zur Verfügung als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens, steht im Armutsbericht von Bundesarbeitsminister Olaf Scholz. Von Armutsrisikoquote und Armutsquote ist die Rede, manche Statistiken sind von 2005, andere aktuell. Alleinerziehend, zwei Kinder: Der blaue Balken im Diagramm des Armutsberichts der Bundesregierung schnellt an dieser Stelle nach oben. Knapp fünf Millionen Haushalte fallen in die gleiche Kategorie wie Yasmin, Florian und Andrea Thiel, das sind über 41 Prozent aller von Armut bedrohten Familien.
"Armut bedeutet, wenn Eltern sich den Schulausflug der Kinder nicht leisten können, wenn kein Geld fürs Mittagessen oder warme Winterkleidung da ist", sagt Johannes Singhammer, familienpolitischer Sprecher der Unions-Fraktion. "Kinderarmut bedeutet: weniger Chancen auf Bildung, Gesundheit, Kultur und Sport. Und auf gesellschaftliche Teilhabe", sagt Caren Marks, familienpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion. "Kinderarmut heißt nicht nur, nicht auf Kindergeburtstage gehen zu können. Armut hat viele Gesichter", sagt Ekin Deligöz, familienpolitische Sprecherin der Grünen. "Wir müssen von armen Kindern sprechen, wenn kein Geld für die Musikschule, für den Sportverein oder ganz einfach für eine ausgewogene gesunde Ernährung da ist", sagt die Linken-Abgeordnete Diana Golze, momentan Vorsitzende der Kinderkommission des Bundestages.
Eigentlich braucht man keine Zahlen, um Armut zu erklären. In Marzahn sieht Armut aus wie das gesprungene Glas in Mutter Andreas Brille, wie schmuddelige Matratzen ohne Bezug oder wie das speckige weiße Deckchen mit Kreuzstichstickereien auf dem Wohnzimmertisch. Sie sieht aus wie die ausrangierte Wohnzimmerschrankwand in Florians Zimmer, die schwankt, wenn man sie anfasst. Oder wie das zerfaserte Schlafsofa, das ihm zum Schlafen viel zu kurz ist. Man erkennt die Armut hier auch daran, dass Elfjährige wissen, dass 3,69 Euro für einen Sechserpack Brause zu teuer ist, und dass nirgendwo ein Schreibtisch steht, an dem Kinder ihre Hausaufgaben machen können. Sie manifestiert sich in einem Durcheinander, das entsteht, wenn man den Überblick über sein Leben längst verloren hat.
"Kinder sind arm, wenn sie merken, dass ihnen etwas fehlt", sagt Pastor Bernd Siggelkow. 1995 hat er das Kinder- und Jugendzentrum "Arche" in Berlin gegründet. Hier gibt es Mittagessen, Erwachsene, die sich kümmern, Freunde, mit denen man spielen kann. 800 bis 1.000 Kinder kommen täglich nach der Schule in die Zentren in Berlin, Hamburg und München, vier weitere sind geplant. Die Zwillinge besuchen seit acht Jahren regelmäßig die Arche in Hellersdorf, "es ist wie eine Familie", sagt Florian. Yasmin wurde vor drei Jahren sogar zum Kampagnengesicht, sie zwinkert von der Homepage. Seit dem Umzug ist die Arche nur noch für Florian nah genug, er kann von der Schule aus hinlaufen. "Keiner meiner Klassenkameraden geht in die Arche", sagt er. "Die haben immer überfüllte Brotboxen. Mit Obst und Süßigkeiten und so", er zuckt mit den Achseln.
"Armut beginnt dort, wo Kinder sich zurückziehen, weil sie von ihren Freunden und Mitschülern nicht mehr akzeptiert werden", sagt Hans Bertram. Der Berliner Familiensoziologe hat gerade für das Kinderhilfswerk Unicef eine Studie über die "Lage der Kinder in Deutschland" erstellt - nur "Mittelmaß", so die Bilanz. "Wir reden immer nur übers Geld", findet Bertram. "Aber Teilhabe hat nicht nur mit Materiellem zu tun."
Vor zwei Wochen hatten die Zwillinge Geburtstag. Sie hatten sich ein Fahrrad gewünscht, eine Playstation. "Was eben alle anderen auch haben", sagt Andrea Thiel. "Meine Kinder betteln nicht. Aber ich sehe ja ihre Augen." Yasmin bekam rosa Playboy-Bettbezüge, Florian Bettwäsche mit den Simpsons, die neuen Simpsonssocken hat er an, sie passen kaum über die Fersen. Wenn die Thiels einkaufen, dann beim Discounter oder Läden, die "MäcGeiz" heißen - was für ein Zynismus. "Ich will nicht, dass die beiden Klassenkameraden mit nach Hause bringen", sagt Andrea Thiel. "Die sehen ja dann, dass hier alles kaputt ist."
Bei Andrea Thiel mischt sich Misstrauen mit Enttäuschung - Außenstehenden, dem Staat, den Ämtern gegenüber. Wegen Beamten, die Betriebskostenabrechnungen verlegen, oder nicht vorbeikommen, obwohl sie müssten. Sie betreibt Vorwärtsverteidigung aus der Defensive. Sie raucht nicht, trinkt nicht, sie kennt die Vorurteile. Dass sie Luxusartikel kauft etwa. Dass sie Geld zum Fenster rauswirft. Dass das knappe Budget nicht wirklich so knapp ist. Der Reiterhelm, den Yasmin auf dem einen Foto trägt: "Nur geliehen, der gehört dem Bekannten, der sie manchmal abholt, der hat ein Pferd." Die Sommerbräune der Kinder: "Wenn die Sonne scheint, fahren wir am Wochenende immer an den Baggersee, der Mann von einer Freundin bringt uns da hin, so kommen wir wenigstens mal raus." Das McDonald's-Album mit den Fußball-Aufklebern: "Da haben sie Freunden beim Autowaschen geholfen, das gab's zur Belohnung." Die vereinzelten Speckrollen bei Florian und Yasmin: "Manchmal müssen sie auch mal hungrig ins Bett."
Mittlerweile hat sich Yasmin einen rosa Glitzergürtel um den Bauch geschlungen und jagt ihren Bruder mit einem Deospray kieksend durch die Wohnung. In vielem sind die beiden ganz normale Elfjährige, und wie alle in ihrem Alter hängen sie irgendwo zwischen Playboy-Bettwäsche und Arielle-Puzzle, zwischen Fußballaufklebern und Klassensprecherstolz. "Schule ist langweilig", sagen sie, und: "Politik finde ich doof." Yasmin wünscht sich, Modedesignerin zu werden. Dem schmächtigen Mädchen auf der Arche-Homepage ähnelt sie kaum noch, sie schminkt sich manchmal, trägt bauchnabelfreie Tops. Seit Florian eine Dokumentation über Troja im Fernsehen gesehen hat, will er Archäologe werden wie Heinrich Schliemann.
Dass es Statistiken gibt, die belegen, dass in Deutschland Bildungsstand und gesellschaftliche Schicht über Generationen hinweg fest miteinander verknüpft sind, wissen die beiden nicht. Sie kennen nur ihr Leben, eingezwängt zwischen Marzahn und Hellersdorf. "Was war zuerst da", fragt Yasmin plötzlich und schlängelt sich auf dem klapprigen Bettsofa ihres Bruders, "das Huhn oder das Ei?". Die Zwillinge sind elf, sie gehen in die dritte Klasse. Anne Haeming z