Demografie
Wir werden immer älter. Aber heißt das auch kränker? Die Antwort ist umstritten. Kein Wunder, denn sie entscheidet mit darüber, was wir für die Pflege einmal zahlen müssen
Die Prognose von Norbert Blüm war ziemlich exakt. Zehn bis zwölf Jahre könnten die Beitragssätze stabil bleiben, prophezeite der frühere Bundessozialminister, als 1995 die Pflegeversicherung als fünfte Säule der deutschen Sozialversicherung eingeführt wurde. Dabei hat sich der CDU-Politiker nur um ein Jahr verschätzt, obwohl die damalige Regierung mit der Pflege völliges Neuland betreten habe, bemerkte Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) kürzlich anerkennend. Denn Schmidt weiß, wie schwierig genaue Vorhersagen über die langfristige Entwicklung der Pflegeversicherung sind. Auf die Frage, wie sich die Alterung der Gesellschaft auf die Zahl der Pflegebedürftigen und die Finanzlage der Pflegeversicherung auswirkt, kennt schließlich auch die Wissenschaft noch keine klare Antwort. Heißt älter zugleich kränker und teurer?
Nicht nur die Pflegeversicherung, sondern auch die Kranken- und die Rentenversicherung sind immer stärker von einem so genannten doppelten Alterungsprozess betroffen. Zum einen steigt die Lebenserwartung und damit die Zahl der älteren Menschen. Zum anderen stagniert die Geburtenrate und damit wird die Gruppe der Menschen im erwerbsfähigen Alter kleiner (siehe Kasten). Immer weniger Beitragszahler stehen also immer einer immer größeren Zahl potenzieller Leistungsempfänger gegenüber.
Umstritten ist jedoch in Politik und Wissenschaft, wie sich der demografische Wandel auf die Zahl der Pflegebedürftigen, den Umfang der notwendigen Hilfe und damit auf die Kosten auswirkt. Ein wesentlicher Faktor bei dieser Betrachtung ist die so genannte alterspezifische Pflegewahrscheinlichkeit. Sie beschreibt das Risiko, in einem bestimmten Alter pflegebedürftig zu werden. Derzeit sind von der Bevölkerung unter 60 Jahren 0,6 Prozent pflegebedürftig, von den 60- bis 80-Jährigen fast vier Prozent und von den über 80-Jährigen ist es fast jeder Dritte.
Zur langfristigen Entwicklung dieser Werte gibt es in der Wissenschaft drei Theorien: Die Status-quo-Hypothese geht davon aus, dass das Pflegerisiko konstant bleibt. Weil die Zahl der Älteren absolut zunimmt, stiege damit parallel auch die Zahl der Pflegebedürftigen. Verschiedene Untersuchungen, unter anderem die der "Rürup-Kommission", gehen davon aus, dass sich unter diesen Bedingungen die Anzahl der Pflegebedürftigen von heute zwei Millionen bis zum Jahr 2050 fast verdoppeln würde.
Eine noch ungünstigere Entwicklung sagt die Medikalisierungthese voraus. Bei ihr wird angenommen, dass der Zugewinn an Lebenserwartung zu einem Anstieg des Pflegerisikos führt: Aufgrund des medizinisch-technischen Fortschritts können zwar akute Krankheiten zunehmend besser geheilt werden, sodass die Sterblichkeit zurückgeht. Zugleich wird aber damit gerechnet, dass altersbedingte Krankheiten wie Gehbehinderungen oder Demenzkrankheiten zunehmen. Damit würde die Zahl der Pflegebedürftigen deutlich stärker steigen als bei der Status-quo-Betrachtung. Das Forschungszentrum Generationenverträge der Universität Freiburg rechnet in diesem Szenario beispielsweise mit fast sechs Millionen Pflegebedürftigen. Eine deutliche Entspannung verheißt dagegen die Kompressionstheorie. Sie geht davon aus, dass älter nicht kränker heißt, sondern die zusätzlichen Lebensjahre in Gesundheit verbracht werden. Die Freiburger Wissenschaftler sagen für dieses Szenario eine Zunahme der Pflegefälle auf lediglich 2,6 Millionen voraus.
Aus der Entwicklung der Pflegebedürftigen-Zahl in den vergangenen Jahren lassen sich noch keine sicheren Erkenntnisse über die längerfristige Entwicklung des Pflegerisikos ableiten, da der Zeitraum zu klein ist. In der Wissenschaft sind derzeit dennoch die meisten der Auffassung, dass sich das Risiko, pflegebedürftig zu werden, in ein höheres Alter verschiebt. Das sieht auch die schwarz-rote Bundesregierung so. In ihrem jüngsten Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung betont sie, es gebe "erste Anzeichen für einen leichten Rückgang" des Pflegerisikos. Das würde zu einem lediglich moderaten Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen führen.
Entwarnung kann dennoch nicht gegeben werden. Denn es bleibt das Problem einer sinkenden Zahl von Beitragszahlern. Außerdem haben die Koalitionspartner CDU/CSU und SPD bei der jüngsten Pflegereform eine Reihe von Leistungsverbesserungen beschlossen, ohne jedoch eine grundlegende Finanzreform anzupacken. Während allerdings die Bundesregierung damit rechnet, dass selbst unter diesen Bedingungen bis zum Jahr 2050 der Beitragssatz nicht über 2,5 Prozent des Bruttolohnes steigen muss, gehen Kritiker der umlagefinanzierten Sozialversicherung von einem Anstieg auf bis zu sieben Prozent aus. Sicher ist aber schon jetzt, dass der zum 1. Juli von 1,7 auf 1,95 Prozent (für Kinderlose 0,25 Prozentpunkte mehr) angehobene Beitrag keine weiteren 13 Jahre stabil bleiben kann. Bundesgesundheitsministerin Schmidt geht vielmehr davon aus, dass im Jahr 2015 und damit bereits in sieben Jahren das Geld nicht mehr reichen wird. Spätestens dann ist die nächste Reform notwendig.