Behinderte Kinder
Ihre Pflege ist für Eltern eine besondere Herausforderung - nicht zuletzt, weil es ungeheuer mühsam ist, die notwendige finanzielle Unterstützung zu bekommen
Christine Schmitt hat ihren Sohn wieder gewickelt und gefüttert, so wie sie es jeden Tag macht. Sie macht es bereits seit acht Jahren und sie wird es noch viele Jahre, wahrscheinlich sogar Jahrzehnte machen: Weil Jan bei seiner Geburt zu wenig Sauerstoff bekam, ist er spastisch gelähmt und wird sein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein.
In der alternden Gesellschaft wird viel über Kinder gesprochen, die ihre Eltern pflegen. Pflegebedürftigkeit wird als letzter Lebensabschnitt gesehen, für den vorgesorgt werden muss. Doch für Eltern von behinderten Kindern heißt es, dass sich der Lebensabschnitt, in dem sie ihre Kinder versorgen müssen, viel länger hinzieht, als sie es in ihrer Lebensplanung vorgesehen hatten. Oder auch, dass er nie enden wird.
Selbst wenn da nicht noch der jüngere und der ältere Bruder von Jan wären, könnte Schmitt ihren Beruf nicht mehr voll ausüben. "Ich hätte es schon lieber gehabt zu arbeiten, als jeden Tag mehrere Stunden mit Füttern zu verbringen", sagt die 42-jährige Journalistin - nicht ohne zugleich zu betonen: "Ich bin dennoch glücklich und zufrieden: Wir haben hier viel Spaß miteinander."
Für die Pflege von Jan erhalten Schmitt und ihr Mann Pflegegeld der höchsten Stufe drei - das waren bislang 665 Euro im Monat, bis 2012 soll der Betrag stufenweise auf 700 Euro erhöht werden. Um das zu erhalten, muss Christine Schmitt nachweisen, dass sie Jan täglich fünf Stunden lang pflegt - zuzüglich der Zeit, die ein gleichaltriges, nicht behindertes Kind an Pflege bedarf.
Ein steiniger Weg: Erst mit Hilfe einer Anwältin konnte die Familie eine Einstufung in die Stufe zwei erreichen, später in die Stufe drei. Knackpunkt sind die Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen: Familien mit behinderten Kindern werden in regelmäßigen Abständen von Gutachtern aufgesucht, die akribisch nach dem Alltag fragen und jede Minute Pflegeaufwand berechnen. Dies geschieht in Anwesenheit der Kinder, die dabei ihre Defizite offen zutage gelegt sehen.
Eine "Tortur", sagt Dietmar H. Becker, Praxisberater bei der Arbeitsgemeinschaft Spina bifida und Hydrocephalus (ASbH), einer bundesweiten Selbsthilfegruppe von Eltern mit Kindern mit angeborener Querschnittslähmung und der früher als "Wasserkopf" bekannten Hirnwasserkreislaufstörung. Vor der Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes im Jahr 1995 musste sich Beckers Klientel dieser Prozedur nicht unterwerfen: Die Diagnose einer Querschnittslähmung mit Inkontinenz plus einer weiteren wesentlichen Beeinträchtigung wie ein Hydrocephalus reichte aus, um den höchsten Pflegesatz zugesprochen zu bekommen.
Die Beratung von Eltern, die gegen die Gutachten Widerspruch einlegen, ist für ihn Alltag. Denn häufig seien die Gutacher auf kranke Personen eingestellt - und "Behinderung ist keine Krankheit", hebt Becker hervor. Er erzählt von einem Gutacher, der fragte: "Spina bifida, seit wann?" - obwohl es das Behinderungsbild nur als angeborene Fehlbildung gibt.
Doch es hat auch positive Veränderungen gegeben. So wurden die Begutachtungsanleitungen geändert und etwa die Vergleichszeiten korrigiert, die für die Pflege von nicht behinderten Kindern zugrunde liegen. Zudem zählt jetzt auch die Begleitung zur Therapie als Pflegezeit.
"Man musste sich erst einmal über jeden Punkt vor Gericht streiten", sagt Christian Au, Sozialrechtler und stellvertretender Vorsitzender der ASbH. In der nun verabschiedeten Reform der Pflegeversicherung wird die Einstufung jedoch laut Au gar nicht angerührt. "Das Gesetz wäre aber auch die falsche Stellschraube," sagt er. Vielmehr sollten die Begutachtungsrichtlinien geändert werden: "Teilleistungsstörungen wie etwa mangelnde Einsichtsfähigkeit sieht man dem Kind nicht an." Häufig gingen Gutachter nach dem Motto vor: Die Hände sind nicht eingeschränkt, also kann das Kind sich die Zähne putzen - gegenteilige Angaben der Eltern würden als Schutzbehauptung zur Wahrung der Pflegestufe abgetan.
Zudem wird seiner Ansicht nach die Aktivierung nicht ausreichend berücksichtigt: "Bei Kindern, anders als bei alten Menschen, hat man ja immer die Hoffnung, dass die Selbstständigkeit noch ausgeweitet werden kann." Er fordert deshalb, für die Unterstützung einer Tätigkeit mehr Zeit anzurechnen als für ihre Übernahme.
Karola Pötter-Kirchner, Sozialarbeiterin am Sozialpädiatrischen Zentrum für chronisch kranke Kinder der Charité in Berlin, wünscht sich mehr Entlastung für die Eltern. Zwar gibt es die Möglichkeit, die so genannte Verhinderungspflege zu beantragen, in der ein anderer das Kind vorübergehend betreut, doch die dafür vorgesehene Summe von knapp 1.500 Euro im Jahr reicht höchstens für ein paar Tage aus. Wenn die Pflege mehr als zwanzig Jahre geleistet werden muss, stünden "die Eltern böse im Regen".
Häufig wissen Eltern nicht einmal, welche Leistungen sie erwarten können. "Alle, die zu uns kommen, haben einen guten Grund, einen Antrag zu stellen", sagt Cornelia Menzel vom Berliner Verein "Eltern beraten Eltern". Doch man müsse etwa das Vokabular kennen. "Betreuung wird nicht als Pflege anerkannt", erläutert sie; in der Ablehnung der Kassen würde es dann heißen: "Die Mutter zieht Betreuungszeiten mit ein." Deshalb rät sie, von "Anleitung" zu sprechen. Menzel wünscht sich in erster Linie mehr Unterstützung für Eltern. "Wir können den Eltern, die zu uns kommen, diese Informationen geben. Aber eigentlich müssten das andere Stellen machen."
Der Autor ist Journalist in Berlin.