Familie
80 Prozent der Bedürftigen werden von Angehörigen betreut. Oft mangelt es an Anerkennung
Die Kür ist es, seine Eltern zu begleiten, ohne sie dafür irgendwann zu hassen." Im ersten Moment klingt dieser Satz brutal. Doch nach einem Jahr Rund-um-die-Uhr-Betreuung ihrer seit einem Schlaganfall pflegebedürftigen Mutter und ihres an Alzheimer erkrankten Vaters vermag Ilse Biberti die ganze Dimension der Worte ihrer Therapeutin zu verstehen. Ständige Überforderung, ein schlechtes Gewissen und die Frage, wo bleibt das eigene Leben, wechseln einander ab. Dann gibt es wieder gemeinsame Momente, in denen Eltern und Tochter das Leben genießen, in denen sie gemeinsam herzlich lachen - doch die könnten viel öfter sein. So wie Ilse Biberti, die ihre Erfahrungen in einem Buch niederschrieb, fühlen sich viele Menschen, die ihre Angehörigen pflegen.
Wenn Eltern alt werden, beginnt oft für die Kinder ein neuer Lebensabschnitt - einer, den sie sich selbst nicht ausgesucht haben. Denn trotz des Angebots verschiedener Einrichtungen werden in Deutschland annähernd 80 Prozent aller Pflegebedürftigen zu Hause betreut. "Es gibt eine große familiäre Kraft in der Gesellschaft", konstatiert Hilmar Ransch vom Paritätischen Wohlfahrtsverband.
Die Familie ist der größte nationale Pflegedienst. Im Durchschnitt dauert die Pflegezeit zehn Jahre. Die Pflegeversicherung deckt nur einen, wie viele Betroffene meinen, viel zu geringen Teil der Mühe, Zeit und des finanziellen Aufwandes einer würdigen Pflege ab. Dieser Aufgabe stellen sich täglich rund 1,8 Millionen Angehörige, meist sind es die Töchter und Schwiegertöchter sowie Ehefrauen, wenn sie noch rüstig sind. In den seltensten Fällen können sich Angehörige auf eine Pflegesituation gründlich vorbereiten. Ein plötzlicher Herzinfarkt, ein Schlaganfall - vor allem ältere Menschen verlassen das Krankenhaus oft unerwartet als Pflegefall. Nur wenige Tage bleiben dann der Familie, um sich auf das neue Leben mit allen Einschränkungen einzustellen. "Pflege ist eine gesellschaftlich wichtige Aufgabe, wird aber als solche noch nicht ausreichend anerkannt", beklagt Ransch, der das Seniorenbüro des Wohlfahrtsverbandes leitet. Er wünscht sich mehr begleitende Beratung und Unterstützungsangebote. "Viele Angehörige wissen oft nicht, auf was sie sich da einlassen."
Ransch plädiert vor allem für einen Ausbau des Angebotes einer Tagespflege. Dadurch würden pflegende Angehörige entlastet und hätten Zeit, etwas für sich zu tun, sich von den täglichen Anstrengungen zu erholen. "Das ist besonders bei der Pflege von Alzheimer-Patienten enorm wichtig", sagt er. Als positiv bewertet der Experte, dass künftig vom Medizinischen Dienst auch Demenzerkrankungen bei der Festlegung einer Pflegestufe berücksichtig werden. Bislang war das nicht der Fall.
"Wenn man 24 Stunden nur pflegt, ist das unmenschlich", weiß Elionore Kubenke aus eigener Erfahrung. Ihr Mann wurde nach einer Virusentzündung quasi über Nacht schwer pflegebedürftig. Sie erinnert sich noch an den Moment, als ihr die Ärzte die bittere Wahrheit mitteilten. "Was tun? Wohin mit meinem Mann?", seien ihre ersten Gedanken gewesen. Kubenke hatte Glück und konnte ihren Mann in einer Wohngemeinschaft für Demenzkranke unterbringen und dort mitbetreuen. Allein, so erzählt sie, hätte sie die Pflege kaum bewältigen können.
Dass Angehörige nicht mehr können, dass sie am liebsten aus ihrem Leben fliehen möchten, das hat die Sozialpädagogin Gabriele Tammen-Parr schon oft gehört. Die Pflege von Angehörigen ist eine 24-Stunden-Aufgabe. Auch wenn die meisten Menschen liebevoll und mit hohem Zeitaufwand gepflegt würden, gebe es doch immer Situationen von Wut, Verzweiflung und auch Aggression, sagt Tammen-Parr, die in Berlin den Pflegenotruf (030/69598989) betreut - eine vor neun Jahren gegründete Beratungsstelle bei Konflikten und Gewalt in der Pflege. "Angehörige können emotional nicht wählen. Oftmals findet ein Rollentausch statt: Der Mann hat früher alles geregelt, jetzt ist er pflegebedürftig", erklärt sie.
Pflegende Angehörige, so Tammen-Parr, müssten mit einem Wirrwarr an Gefühlen zurechtkommen: "Der geliebte Partner oder Vater hat sich verändert, er reagiert verwirrt. Eine Verbesserung der Situation wird es nicht geben. Der Tod rückt näher. Eigene seelische Befindlichkeiten rücken in den Hintergrund. Es gibt keinen räumlichen Abstand." Die Sozialpädagogin spricht von einem Spagat zwischen Zuwendung und Überforderung, der den Alltag der Pflegenden bestimmt. Deshalb sei das Gespräch innerhalb der Familie wichtig, auch um zu klären, wer im Notfall als Unterstützung einspringen kann. "Keiner muss sich schämen, wenn er die Pflegesituation nicht bewältigt", sagt die Expertin.
Rund 150 Anrufe bekommt der Dienst "Pflege in Not" im Monat. Jeder von ihnen ist ein verzweifelter Hilferuf. "Ich habe gerade meine Mutter mit der Bürste geschlagen", erzählt die Tochter am Telefon. Die Mutter sei dement und habe sich den ganzen Morgen nicht kämmen lassen wollen. "Dann ist es passiert. Ich habe mich so geschämt", sagt die Frau.
Eine Ehefrau, die ihren Mann pflegt, berichtet, dass sie es an manchen Tagen nicht mehr aushalten könne. "Ich kann ihn einfach nicht mehr sehen. Dann möchte ich am liebsten wegrennen." Sie verlasse dann ziellos die Wohnung und bleibe oft Stunden weg, nur um ein wenig Zeit für sich zu haben. "Aber genießen kann ich das auch nicht." Zurück in der Wohnung plage sie dann das schlechte Gewissen. In einem anderen Telefonat erzählt eine Tochter, dass sie ihrer pflegebedürftigen Mutter nichts recht machen kann. "Sie beschwert sich und nörgelt in einem fort. Das war schon früher so." Nur der Sohn sei ihr wichtig gewesen.
Über Gewalt in der Pflege gibt es bislang keine Zahlen, auch weil niemand Auskunft geben will. "Die Erfahrung besagt aber, dass die Dunkelziffer hoch ist", unterstreicht Tammen-Paar. Auch psychische Gewalt wie lautes Schimpfen, das Einschließen von pflegebedürftigen Personen in einem Zimmer oder wenn diese zu heiß gebadet oder mit nasser Windel liegengelassen würden - das alles gehöre dazu.
"Die wirklichen Dramen spielen sich zu Hause ab, hinter den Mauern", weiß die Expertin. Den Mitarbeitern des Pflegenotrufs gehe es in den Gesprächen mit den Pflegenden nicht um Schuldzuweisungen, sondern um Beratung und Hilfe, betont sie.
Klar ist, dass Kinder für ihre Eltern finanziell sorgen müssen, wenn diese bedürftig sind. Vor allem, wenn ein Platz in einem Pflegeheim notwendig ist, greift der so genannte Elternunterhalt. Wenn das Vermögen der Heimbewohner und die Leistungen der Pflegeversicherung nicht ausreichen, haften Kinder und auch Schwiegerkinder. Dafür müssen sie ihre gesamten Einkommen und ihr Vermögen offenlegen. Die Höhe der Unterhaltszahlung hängt dann vom Einzelfall ab. Viele Angehörige beklagen aber, dass die Berechnungen der Sozialämter häufig zu kompliziert, unübersichtlich und für sie kaum nachvollziehbar sind.
In der Praxis beschäftigt der Elternunterhalt auch immer wieder die Gerichte. So stellte jüngst das Bundesverfassungsgericht klar, dass die Pflicht zur Unterhaltszahlung Grenzen hat. Kinder müssen danach nur zahlen, wenn ihnen selbst genug Geld zum Leben bleibt. So sind erwerbstätige Kinder seit dem 1. Juli 2005 beispielsweise nur verpflichtet zu zahlen, wenn ihr Nettoeinkommen 1.400 Euro monatlich überschreitet. Verdienen sie mehr, muss der Überschuss auch nicht vollständig abgeben werden, sondern in der Regel nur zur Hälfte. Auch werden die Ausgaben der Kinder für die eigene Altersvorsorge stärker berücksichtigt. Fünf Prozent des Bruttoeinkommens sind dafür frei. Das Gericht stellte auch klar, dass eine selbst bewohnte Immobilie nicht verkauft werden muss, um der Unterhaltsverpflichtung nachzukommen. Auch die Pflicht auf Versorgung der eigenen Kinder geht dem Elternunterhalt vor.
Was aber ist nun das Wichtigste bei der Betreuung von Pflegebedürftigen? Ilse Bibertis Antwort kommt prompt: "Humor, Herzensbildung und der liebende Blick, Respekt, wirkliche Anteilnahme und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen", sagt sie.
Um Verständnis für das Befinden ihrer 85-jährigen Mutter nach dem Schlaganfall zu bekommen, machte die Regisseurin einen Selbstversuch. Sie erzählt: "Ich trinke zwei Liter warmen Tee, nehme die Unterteile eines Besens und eines Schrubbers und schnalle sie mir unter die Sohlen von zwei verschieden hohen Schuhen, um die Arthrose zu simulieren. Nehme eine alte Brille meiner Großmutter, verkleinere das Sichtfeld mit dunklem Klebeband, beschmiere den Rest mit Spülmittel, lege eine Einlage aus dem Krankenhaus ein, stopfe mir die alten Hörgeräte meines Vaters in die Ohren, verstelle es sinnlos, nehme Mutters Stock und schwanke so ins Treppenhaus." Das Fazit der Tochter: "Wie meine Mutter das schafft, ist mir ein Rätsel." Nach Monaten des Aneinandergewöhnens sind sich Eltern und Tochter heute sicher: "Wir sind eine echte Wohn- und Lebensgemeinschaft geworden. Wir akzeptieren die Situation. Genießen den Augenblick. Wissen, dass die Lebensreise auf einen Abschied hinsteuert."
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin.