Herr Fussek, seit fast 30 Jahren beklagen Sie öffentlich die Missstände in Pflegeheimen. Was hat sich in dieser Zeit aus Ihrer Sicht verändert?
In der Branche haben sich manche bewegt - in Sachen Transparenz etwa. Und in einigen Häusern gab es tatsächlich Verbesserungen. Vor allem wurde die bisherige Allianz des Schweigens gebrochen. Inzwischen sind zwei Drittel meiner Informanten Pflegekräfte. Trotzdem frage ich mich nach wie vor: Wie kann es sein, dass es in einem der reichsten Länder der Welt solche Zustände gibt?
Der jüngste Prüfbericht des Medizinischen Dienstes hat ergeben, dass jeder zehnte Heimbewohner in Deutschland wegen schlechter Pflege geschädigt ist. Das hat Sie sicher nicht überrascht?
Nein. Und es kommt ja noch eines hinzu: Es handelt sich um Prüfergebnisse, die bei überwiegend angemeldeten Kontrollen zustande kamen. Mein Eindruck ist und bleibt: Das wahre Ausmaß der Missstände wird gar nicht öffentlich. Dabei wissen alle Bescheid: die Pflegekräfte, die Besucher, die Angehörigen, die gesetzlichen Betreuer, die Ärzte, die Rettungssanitäter, die örtlichen Krankenhäuser, die Apotheker. Und auch die Altenpflegeschulen, denn die erhalten ja die erschütternden Praktikumsberichte.
Der große Aufschrei ist ausgeblieben?
Es gibt gar keinen. Das Erschütternde ist: In einer Gesellschaft, die jährlich 2 Milliarden Euro für Hunde- und Katzenfutter ausgibt, schämt sich keiner für die massenhafte Mangelernährung alter Menschen in Pflegeheimen. Wenn Häftlinge tagsüber nicht aus ihren Zellen kommen, weil es an Sport- oder Arbeitsangeboten mangelt, regen sich Politiker auf. Wo ist die Betroffenheit über die vielen Tausenden, die unter schwersten Druckgeschwüren leiden, bloß weil man keine Zeit hat, sie richtig zu lagern?
Das Prüfergebnis hat aber bereits eine Verbesserung ergeben: Vor drei Jahren waren noch doppelt so viele Menschen durch schlechte Pflege geschädigt.
Wer zufällig in einem Heim lebt, in dem es besser geworden ist, hat Glück gehabt. Aber wir reden nicht über Verbesserungen in Darfur oder in Flüchtlingslagern. Wir reden über Pflegeheime mit Pflegesätzen von 3.000 bis 3.500 Euro monatlich. In diesen Heimen liegen unsere Eltern, unsere Großeltern, unsere Verwandten. Ja, schaut denn da niemand hin? Besonders schlimm ist für mich immer der Satz, dass es sich nur um Einzelfälle handle. Bei zehn Prozent haben wir also 70.000 Einzelfälle. Und dann die Zusatzbemerkung: "Jeder Einzelfall ist natürlich ein Einzelfall zu viel." Das sind leidenschaftslose Floskeln. Ich halte dieses Prüfergebnis und die Tatsache, dass wir noch stolz sind auf die kleine Verbesserung, für eine ethische Bankrotterklärung - in einem Land mit Politikern, die sich gegen aktive Sterbehilfe erklärt haben.
Warum werden alte Menschen in Deutschland so gepflegt?
Ich habe das Gefühl, dass man an den Folgen schlechter Pflege prächtig verdient - und zwar viele Milliarden. Sonst gäbe es in unseren Heimen längst eine Pflicht zur Sturzprophylaxe. Man hätte dort feste Ärzte. Und man würde Prävention zur Grundlage jedes Versorgungsvertrags machen.
Wer verdient an schlechter Pflege?
Die ganze Branche. Zuvorderst natürlich die örtlichen Krankenhäuser, die mit den krank gepflegten Alten ihr Geschäft machen. Jedes Druckgeschwür und jeder Oberschenkelhalsbruch ist für die ein Wirtschaftsfaktor. Auch die Rettungssanitäter leben vom Hin- und Hertransport zwischen Klinik und Pflegeheim - wenn es Heimärzte gäbe, hätten sie weniger zu tun. Und mit mehr Betreuung und Ergotherapie bräuchten die alten Menschen auch weniger Medikamente - was die örtlichen Apotheken und die Pharmaindustrie zu spüren bekämen. Keiner davon hat wirklich ein Interesse an Verbesserungen für die alten Menschen.
Die Gesundheitsindustrie profitiert von wenig Heilung und vielen chronisch Kranken. Aber muss man gleich von einer Pflegemafia sprechen, wie sie das in Ihrem jüngsten Buch tun?
Mafia heißt für mich, dass in einem System skrupellos an wehrlosen Menschen sehr viel Geld verdient wird - und dass man trotz aller Erkenntnisse daran festhält. Das ist hier der Fall. Darin bestätigen mich auch die Reaktionen auf mein Buch. Offenbar begreifen viele aus der Branche langsam, was sie ethisch verbrochen haben.
Gehören für Sie denn auch die Kirchen zu dieser Mafia?
Selbstverständlich. Wenn es um Gratishumanität geht, stehen sie immer ganz vorne. Aber dort, wo sie mitverdienen und verantwortlich sind, also etwa in ihren Heimen, da schweigen sie und leugnen die Probleme. Klar, wer überall seine Finger drin hat, kann keine Faust mehr ballen. Das erklärt auch, warum sie sich als größter Arbeitgeber nicht flächendeckend für eine ordentliche Bezahlung von Pflegekräften einsetzen.
Nun gibt es eine Pflegereform. Ist das nicht schon mal was?
Vor zehn Jahren hätte ich gesagt: Besser als gar nichts. Nach jahrelanger Diskussion aber kann ich nicht begreifen, wie man dieses Reförmchen ernst nehmen soll.
Was hätten Sie sich denn erwartet?
Zum Beispiel, dass man Kranken- und Pflegeversicherung zusammenlegt. Und dass man endlich ein Anreizsystem für gute Pflege installiert. Aber man hat es nicht einmal geschafft, sich von der unerträglichen Minutenpflege zu verabschieden - wo es auf der ganzen Welt keinen Menschen gibt, der so gepflegt werden und keinen Pfleger, der so pflegen möchte. Auch die Einstufung der Pflegebedürftigen ist völlig praxisfern. Tatsache ist: In Heimen erhält auch weiterhin keiner die Leistung, auf die er eigentlich einen Rechtsanspruch hat.
Jetzt erhalten aber Heime für jeden Bewohner, der eine bessere Pflegestufe erreicht, eine Prämie.
Ja, 1.500 Euro, eine lächerlich kleine Summe. Das zeigt, dass man ein bisschen was erkannt hat, sich aber nicht mit der Lobby anlegen wollte.
Das Reförmchen, wie Sie sagen, enthält auch Weichenstellungen. So wird ambulanter Pflege erstmals deutlich Vorrang eingeräumt…
Auch das ist nur ein Lippenbekenntnis. Wenn man die Menschen fragt, will keiner in ein Pflegeheim und schon gar nicht in ein Doppelzimmer. Trotzdem werden ständig neue Heime mit Doppelzimmern gebaut. Und wenn erst einmal Heimkapazitäten vorhanden sind, wird der Ausbau ambulanter Strukturen vernachlässigt - weil für ambulante Versorgung eben die Kommune zuständig ist und für das Heim der überörtliche Träger. Es gibt auch nach der Pflege- reform nur wenig Anreize, häusliche Strukturen auszubauen.
Aber die Leistungen der Pflegeversicherung werden dynamisiert. Und für Demenzkranke fließt mehr Geld.
Angesichts der dramatischen Überlastung vieler Angehöriger sind die Verbesserungen sehr bescheiden. Wenn ich einem Kellner im Lokal 20 Cent Trinkgeld gebe, ist das auch besser als gar nichts. Aber er wird beschämt sein. Wer zuhause pflegt, bekommt nun für die Pflegestufe II pro Tag zwei Minuten mehr an Entlastung. Das ist zynisch.
Helfen können den Angehörigen jetzt auch die neuen Pflegestützpunkte.
Das ist nichts als ein Ablenkmanöver. Bisher haben doch alle schon umfassend beraten müssen. Jede Krankenkasse, jede Kommune, jeder Pflegedienst. Was ist denn passiert, haben die geschlafen?
Die Menschen wurden oft von einer Stelle zur anderen geschickt. Nun bekommen sie einen Ansprechpartner.
Das funktioniert doch nicht. Was die Politik hier propagiert, ist eine eierlegende Wollmilchsau aus Sozialpädagoge, Seelsorger und Krisenmanager. Und die muss dann den Mangel verwalten. Was hilft es dem Angehörigen, wenn ihm gesagt wird: Sie haben einen gesetzlichen Anspruch auf Tagespflege, es gibt aber leider keine. Nein, jede Kommune ist verantwortlich für ihre Alten. Sie muss die Infrastruktur schaffen, und sie hat eine umfassende Beratungspflicht. Dafür braucht es keine neuen Gesetze.
Sollte man Pflegeheime generell abschaffen, wie es einige Kritiker fordern?
Das ist unrealistisch. Ich würde sagen: Baut keine neuen mehr. Errichtet stattdessen flächendeckend bezahlbare ambulante Strukturen. Auch flexible Nacht- und Wochenendpflege ist nötig. Und wir brauchen mehr Nachbarschaftshilfe, wir müssen das bürgerschaftliche Engagement verbessern. Ich kenne eine 85-jährige blinde Frau, die versucht, möglichst selbstständig zu sein. Geld bekäme sie nur, wenn sie sich einen doppelten Oberschenkelhalsbruch zuzöge, einige Wochen im Krankenhaus läge und dann bettlägerig würde. Ein solches System ist nicht nur teuer, es ist pervers.
Woran fehlt es denn vor allem in den Heimen? Am Geld?
Wir haben zu wenig Personal, aber wir haben vor allem zu wenig fachlich und menschlich qualifiziertes Personal. Wir haben zu viele Jobber in diesem Bereich.
Weil die Träger nicht mehr bezahlen wollen?
Das ist ein Teufelskreis. Natürlich müssen wir fragen: Wo geht das ganze Geld hin? So lange aber gute Pflegekräfte genauso bezahlt werden wie schlechte, wird sich nichts verbessern. Wichtig wäre eine leistungsgerechte Bezahlung. Es kann nicht sein, dass eine Pflegerin, die sich in ihrer Freizeit fort- bildet, nicht mehr verdient als eine, die nicht mal die Apothekerzeitung liest.
Heime sollen nun öfter und unagemeldet geprüft, die Ergebnisse veröffentlicht werden. Das hört sich doch gut an.
Natürlich sind das Fortschritte. Nur: Für gute Heimträger sind es Selbstverständlichkeiten. Dass man überhaupt darüber diskutieren muss, ist absurd. Die verordnete Transparenz light für 2011 zeigt nur, wie wenig erreicht wurde. Ich bin mir sicher: Es wird auch dann keine Pflicht zu unangemeldeten Kontrollen geben. Weil man sich nicht auf einheitliche Kriterien einigen kann.
Das heißt, es wird sich nicht viel verbessern?
Meine Hoffnung ist es, die Branche zu spalten. Wir wissen doch, dass es anders geht. Es gibt Heime, wo man alte Menschen würdevoll behandelt, wo Einzelzimmer und unangemeldete Kontrollen selbstverständlich sind, wo es einen Angehörigenbeirat gibt und man offen mit Beschwerden umgeht. Die beste Heimaufsicht bleiben engagierte Angehörige - und eine Gemeinde, die sich um ihre alten Menschen kümmert.
Das Interview führte Rainer Woratschka. Er ist Redakteur und Parlamentskorrespondent beim Berliner "Tagesspiegel".