Jüdisches Altenzentrum
Ihre leidvolle Geschichte lässt ehemaligen Konzentrationslager-Häftlingen keine Ruhe. In Frankfurt am Main ist die Pflege von Holocaust-Überlebenden ein Schwerpunkt der Arbeit
In der gemütlichen Küche der Wohngruppe "Jerusalem" haben sich vier alte Frauen versammelt. Mit ihren Rollstühlen bilden sie einen kleinen Halbkreis um das Tischchen mit den Kerzen, dem Brot und dem Wein. Der Maschgiach Raskin begrüßt die Gruppe mit einem freundlichen "Shabbat Shalom". Er zündet die beiden Kerzen an und spricht den Kiddusch, den Segen über den Wein. Als er das Shabbatgebet in hebräischer Sprache singt, sprechen die Frauen leise mit. Gemeinsam trinken sie den Wein und essen das gesegnete Brot. Dann nehmen alle die Shabbat-Mahlzeit am festlich gedeckten Tisch ein.
Es ist Freitagnachmittag, im Jüdischen Altenzentrum in Frankfurt-Bornheim geht die Woche zu Ende. Der Maschgiach, der die koschere Zubereitung der Speisen kontrolliert und das religiöse Leben im Heim gestaltet, geht von Wohngruppe zu Wohngruppe, um den Beginn des Shabbat zu feiern. Dort warten all jene Bewohner, die zu krank oder gebrechlich sind, um die hauseigene Synagoge im Erdgeschoss zu besuchen, wo später der Gottesdienst stattfindet.
Rund 170 alte Menschen aus 18 Herkunftsländern leben im Jüdischen Altenzentrum, 30 von ihnen waren KZ-Häftlinge oder haben in Verstecken und in Wäldern überlebt. Die Pflege von Holocaust-Überlebenden ist ein Schwerpunkt der Arbeit. Das Zentrum wurde im Jahr 1974 auf dem Gelände des ehemaligen Jüdischen Krankenhauses in Frankfurt eröffnet. Es ist das größte jüdische Altenheim in Deutschland, das zweitgrößte in Europa. Leo Friedman, der das Haus seit zehn Jahren leitet, kennt die leidvolle Geschichte jedes Bewohners. Für Friedman, dessen Eltern als polnische Juden vor den Nationalsozialisten fliehen mussten, ist der Respekt vor dem Leben der alten Menschen der Maßstab für die soziale und pflegerische Arbeit. "Viele Bewohner haben keine Angehörigen, weil sie ermordet wurden. Das Jüdische Altenzentrum muss daher für viele alte Menschen die Familie ersetzen und zu ihrer Heimat werden", sagt der Leiter.
Das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) fördert das Altenzentrum als Bundesmodell für transkulturelle Pflege. In dem fünfstöckigen Gebäude wohnen Überlebende der Konzentrationslager, Rückkehrer aus dem Exil sowie Juden aus Osteuropa und der früheren Sowjetunion. Letztere stellen heute die größte Gruppe der Bewohner dar, sie werden von russisch sprechenden Mitarbeitern betreut. "Die Geschichte des Hauses spiegelt die jüdische Geschichte wider", sagt Professorin Esther Weitzel-Polzer, die das Altenzentrum sei fast zehn Jahren wissenschaftlich begleitet. Das Leben in den 13 Wohngruppen und der transkulturelle Ansatz, bei dem das Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft gefördert wird, sind zentrale Merkmale des Konzepts. "Das bindende Element zwischen den unterschiedlichen Kulturen ist das Jüdische", sagt Weitzel-Polzer, die an der Fachhochschule Erfurt Sozialmanagement lehrt. Nach einer Sanierung, die vom Land Hessen und dem BMFSFJ gefördert wurde, kann seit diesem Sommer das Konzept voll umgesetzt werden. Die neue Architektur bietet vor allem den Demenzkranken ein hohes Maß an Bewegungsfreiheit und zugleich Sicherheit.
Regelmäßige Fortbildungen prägen den beruflichen Alltag der 120 Beschäftigten des Altenzentrums. Gerade im Alter werden viele Opfer des Naziregimes von ihren Erinnerungen heimgesucht. Besonders belastend wird es für sie, wenn in Folge von Demenz das Kurzzeitgedächtnis nachlässt. Je fortgeschrittener die Demenz, desto mehr leben die alten Menschen in ihrer Vergangenheit. "Für viele Überlebende wächst dann das Gefühl der Bedrohung", sagt Weitzel-Polzer. Sie brauchen seelischen Beistand, um ihre traumatische Vergangenheit bewältigen zu können - eine Aufgabe, die bei einer Pflege im Minutentakt nicht zu leisten ist. Neben den Pflegefachkräften lebt in jeder Wohngruppe daher tagsüber eine "Alltagsmanagerin". Im Heim ist zudem ein Psychologe tätig, der auf die Betreuung von Holocaust-Überlebenden und auf posttraumatische Störungen spezialisiert ist.
Zur Fortbildung der Mitarbeiter reist regelmäßig Nathan Durst aus Israel an. Er ist Chefpsychologe der Organisation "Amcha" (hebräisch: "dein Volk"), die 1987 gegründet wurde, um Holocaust-Überlebenden und deren Familien professionelle Hilfe zu geben. "Hier und in Israel gab es bis in die 80er-Jahre eine Gemeinschaft des Schweigens", sagt Weitzel-Polzer. "Das Konzept von Amcha ist es, das Schweigen zu brechen und den Menschen Raum zum Reden zu geben."
Lager, Vertreibung, Verstecken, Leben im Exil - die Mitarbeiter lernen, welche Formen des Überlebens es gab und mit welchen Erfahrungen sie verbunden sind. So empfinden Auschwitz-Überlebende Wasser aus der Dusche oft gleichbedeutend mit dem Tod, weil dort aus den Duschköpfen das Gas kam. Genauso tief sitzt die Furcht vor der Krankenstation - der Gang dorthin war ebenfalls der sichere Tod. Auch wehren sich Überlebende oft, körperliche Leiden einzugestehen. Sie wollen um jeden Preis stark sein - die Schwachen wurden in den Lagern getötet. Die Herausforderungen für die Pfleger sind daher groß.
"Man weiß nie, womit löse ich etwas aus", sagt Krankenpfleger Udo Ohnheiser. Die Ausdrucksformen des Leidens zu verstehen und angemessen zu reagieren - die regelmäßige Weiterbildung ist unverzichtbar für die tägliche Arbeit. "Wir werden sensibilisiert für den Umgang mit traumatisierten Menschen", erläutert Ohnheiser. Manche der Bewohner leben aus gepackten Koffern und sind auch im Haus nie ohne Geld unterwegs - sie sind stets fluchtbereit, die Angst vor Verfolgung begleitet sie bis heute.
Ein wichtiges Element der Betreuung ist die Biografiearbeit. Schon beim Einzug wird die Lebensgeschichte des Bewohners erfasst. "Die meisten sprechen bereitwillig über ihr Leben. Es ist nicht mehr die Zeit des Schweigens", sagt Weitzel-Polzer. Was bei den täglichen Gesprächen in der Wohnküche zur Sprache kommt, wird ebenfalls in den Biografiebogen eingetragen. Biografiearbeit ist auch die Basis für die an Demenz erkrankten Heimbewohner. Gemeinsame Aktivitäten und der strukturierte Tagesablauf in den Wohngruppen sowie die Betreuung in der jeweiligen Muttersprache kennzeichnen die Pflege der Erkrankten.
Die gemeinsamen Feiern zum Shabbat und den jüdischen Feiertagen bilden wichtige Orientierungspunkte für die alten Menschen. Auch die Bewohner christlichen Glaubens, die derzeit 15 bis 20 Prozent ausmachen, nehmen daran gern teil. Ein Punkt ist Heimleiter Leo Friedman aber besonders wichtig: "Opfer und Täter sitzen hier nicht an einem Tisch."
Bei Interessenten nichtjüdischen Glaubens wird vor der Aufnahme ins Frankfurter Altenzentrum geprüft, ob jemand aktiv im Nationalsozialismus dabei war. "Wir haben einmal eine negative Erfahrung gemacht, dass jemand im Speisesaal plötzlich aufstand und die jüdischen Bewohner judenfeindlich beschimpfte", erinnert sich Friedman. Tagelang seien diese daraufhin völlig aufgewühlt und verstört gewesen. "Wir haben lange gebraucht, um das wieder aufzufangen."
Die Autorin ist Korrespondentin im Bundesbüro der Nachrichtenagentur AFP.