Heime
Die Unterschiede in der Qualität sind teils gravierend - die Preisunterschiede auch. Viel hängt von der Leitung ab
Der Fehler wurde erst nach drei Monaten bemerkt und eher zufällig. Im März waren Frau Höhne* und ihr Mann in ein Dresdner Pflegeheim gezogen. Zuvor wohnten sie in einer altersgerechten Wohnung. Selbst bei guter Tagesform brauchte die 88-Jährige eine Viertelstunde, um ihre Bluse zuzuknöpfen. Als sich ihr Mann beim Zeitungholen den Ellenbogen zertrümmerte, machten sie sich mit dem Gedanken vertraut: Es geht nicht mehr anders, wir ziehen ins Heim.
Trotz anfänglicher Bedenken lebten sie sich gut ein, in der Sitztanzgruppe schlossen sie neue Bekanntschaften, das Essen schmeckte. Doch mit jedem Tag fühlte Frau Höhne ihre Kräfte schwinden, die Wangen wurden hohler, die Stimme zum Flüstern. Das Alter, dachte sie. Ein Besuch bei ihrem Hausarzt brachte schließlich Klarheit. Dieser verglich die Medikamentenliste der Einrichtung mit seiner Patientenakte und stutzte: Frau Höhne, warum nehmen Sie Ihre Herztabletten nicht mehr? Es stellte sich heraus, dass irgendjemand bei Frau Höhnes Aufnahme ins Altenpflegeheim schlicht vergessen hatte, die Herztabletten in ihre Medikamentenliste zu übertragen. "Ein typischer Dokumentationsfehler", meint Johanna Knüppel, Sprecherin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe. So etwas geschehe, wenn Personal überlastet sei. Und das komme immer häufiger vor.
Mehr als 10.000 Pflegeheime gibt es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in Deutschland. Die Heime arbeiten in einem Spannungsverhältnis: Einerseits stehen sie unter öffentlicher Beobachtung. Die Berichte des Medi-zinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) haben Missstände offengelegt, der im 2007 veröffentlichte Bericht der Spitzenverbände der Krankenkassen bescheinigte jedem zehnten Heim Mängel in der Pflege.
Pflege ist zudem ein gesellschaftliches Thema. Immer mehr Menschen sind selbst betroffen oder haben Angehörige, die in Heimen wohnen. Von den 2,1 Millionen Menschen mit Pflegestufe I bis III wohnten 2006 mehr als 700.000 in stationären Einrichtungen. Die Zahl der Plätze stieg seit 1999 um 18 Prozent auf 750.000.
Andererseits sind die Heime unter wirtschaftlichem Druck und geben diesen an das Personal weiter. Die Arbeitsverdichtung steigt. Eine aktuelle Studie des Bundesfamilienministeriums zu Trends in der stationären Altenpflege kons-tatiert Lücken beim Personal und bescheinigt drei Vierteln der Heime, die Fachkraftquote von 50 Prozent zu unterlaufen.
Die Suche nach einem Heimplatz wird in diesem Spannungsfeld für viele zur Irrfahrt mit ungewissem Ausgang. Frau Höhne und ihr Mann entschieden sich für das nächstgelegene Heim. Dieses sei zwar im Vergleich zu anderen Heimen in ihrer Stadt teuer, aber ihnen gefiel die angenehme Atmosphäre und mehr noch: Die Seniorenresidenz ist nur drei Haltestellen von dem Stadtteil entfernt, in dem sie 50 Jahre lang wohnten.
Träger des Heimes sind die Marseille-Kliniken, ein börsennotierter Konzern, der deutschlandweit 55 Pflegeheime betreibt. Vorstandschef Axel Hölzer forderte im vergangenen Jahr regelmäßige und unangemeldete Kontrollen in allen Heimen und eine Rangliste für Pflegeheime. Getreu dem Motto: Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts verbrochen. Diese Ansicht teilt die Politik. Die am 1. Juli in Kraft getretene Pflegereform schreibt von 2011 an die jährliche Kontrolle aller Einrichtungen vor. Die Ergebnisse sollen verbraucherfreundlich im Internet veröffentlicht werden. Abzulesen sein sollen sie auch im Eingangsbereich eines jeden Heimes: in Form einer Ampel soll dann dargestellt werden, ob das Heim im oberen Drittel, im Mittelfeld oder ganz unten rangiert.
"Das sichert 100-prozentige Transparenz", unterstreicht Jürgen Brüggemann, Qualitätsbeauftragter des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS). Im Vordergrund werde die Ergebnisqualität stehen. Das heißt, die Prüfer achten hauptsächlich auf den Pflegezustand der Menschen und schauen, ob die pflegerischen Maßnahmen wirken. Kritiker monieren, dass die MDK-Berichte Momentaufnahmen seien: "Der MDK kann zwar zählen, wie viele Menschen mit Druckgeschwür in einem Heim wohnen. Aber er weiß nichts über die Ursachen", sagt Jan Kottner vom Institut für Pflegewissenschaft an der Berliner Charité.
Die Wissenschaftler planen ein ehrgeiziges und bisher einzigartiges Projekt: Sie wollen 500 Heimbewohner aus Deutschland und den Niederlanden über Monate beobachten und so direkte Zusammenhänge zwischen Pflege und Gesundheitszustand wissenschaftlich dokumentieren. Die erste Welle finanziert die niederländische Regierung.
Die Bedingungen in den hiesigen Pflegeheimen haben sich in den vergangenen 14 Jahren verbessert. Die Heime können es sich allein wegen ihres Images nicht leisten, Bilder von vor dem Fernseher geparkten Greisen zu produzieren. Der Studie des Familienministeriums zufolge bewohnen inzwischen zwei von drei Pflegebedürftigen ein Einzelzimmer, mehr als die Hälfte der Heimbewohner beteiligt sich an gemeinsamen Aktivitäten. 90 Prozent der Heime bieten solche Beschäftigungen an - von Sport und Kultur bis zu Seelsorge und Sterbebegleitung. Wie würdevoll das Pflegepersonal mit den Menschen umgeht und wie viel Eigenverantwortung es ihnen zugesteht, lässt sich am Freizeitangebot jedoch nicht ablesen.
Der Preis, da sind sich Wissenschaftler, Verbraucherschützer und Kontrolleure einig, ist ebenfalls kein Qualitätskriterium: "Es gibt sehr schlechte und teure Heime, genauso wie es gute Heime mit moderaten Preisen gibt", betont der MDS-Qualitätsbeauftragte Brüggemann. Ein Heimplatz kostet je nach Pflegestufe zwischen 2.500 und 3.500 Euro monatlich. Ein Preisvergleich lohnt sich dennoch. Der kürzlich veröffentlichte "Pflegeheim Rating Report" des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung hat erhebliche und teils "unerklärliche" Preisunterschiede zwischen Heimen gefunden. Private Heime sind danach im Schnitt zehn Prozent günstiger. Das könnte daran liegen, dass sie weniger Personal einsetzen, vermuten die Autoren.
Dass sich die personelle Situation der Heime in den vergangenen Jahren verschlechtert habe, beklagen die Berufsverbände gemeinsam mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. "Altenheime werden immer mehr zu Krankenstationen, aber das Personal wurde nicht dementsprechend aufgestockt", berichtet Johanna Knüppel vom Berufsverband. Um "gegen Stellenabbau und unzumutbare Arbeitsbedingungen in der Pflege" zu protestieren, baten Pflegerinnen und Pfleger daher im Juni um Einlass ins Bundesgesundheitsministerium und übergaben Hausherrin Ulla Schmidt (SPD) ihre Forderungen, versehen mit 185.000 Unterschriften. "Der Alltag sieht so aus, dass man bis zum Mittagessen Grundpflege betreibt, um dann Essen anzureichen. Zeit für ein Gespräch bleibt da kaum", schreibt eine Personalverantwortliche.
Auch die Expertise des Familienministeriums resümiert, die Personalsituation schränke die pflegerischen Möglichkeiten spürbar ein. "Es hat den Anschein, dass sich mit den momentan verfügbaren Personalressourcen auf Dauer keine substanziellen Innovationen nachhaltig werden vorantreiben lassen", schreiben die Autoren.
Dennoch gelingt es manchen Heimen besser mit ihrem Personal hauszuhalten als anderen. Vieles hänge von der Heimleitung ab, meint Brüggemann: "Wir wissen, dass Heime mit qualifizierten Leitungskräften und einem Qualitätsmanagement auch gute Qualität bieten." Das sieht die Sprecherin des Berufsverbandes, Knüppel, ähnlich und ergänzt: "In einem guten Heim haben Angehörige und Bewohner einen Ansprechpartner, der für sie da ist." Eine Bezugsperson also, die sich um die Belange des Bewohners kümmert. "Primary Nursing" nennt sich das Konzept, das ursprünglich aus den USA stammt.
Im evangelischen Seniorenheim Albestraße in Berlin-Schöneberg wird Bezugspflege seit sechs Jahren praktiziert. "Jeder Bewohner hat eine Pflegefachkraft, die speziell für ihn zuständig ist. Das hängt auch im Haus aus: Frau Mayer und dahinter der Name der Pflegerin und einer Vertretung", erläutert der Qualitätsbeauftragte Andreas Schilde. Die Bezugspflegefachkraft organisiert die Pflege, hält Kontakt zu den Angehörigen, zum Hilfsmittelversorger und zum Arzt. Die Vorteile lägen auf beiden Seiten: "Die Pflege verbessert sich für die Bewohner, wenn sich eine Person speziell um sie kümmert", sagt Schilde. Aber auch für die Pfleger sei der intensive Kontakt entlastend. "Je besser wir jemanden kennen, desto entspannter ist der Umgang." Wichtig sei, dass die Zuständigkeiten klar geregelt seien. "Man fühlt sich verantwortlich und wenn etwas nicht klappt, dann muss man dafür auch Verantwortung übernehmen", betont Schilde.
Frau Höhne fühlt sich inzwischen wieder wohl im Heim, seitdem ihr Herz kräftiger schlägt. Sogar beim Sitztanz war sie neulich wieder. Die Sache mit den Herztabletten ist fast vergessen. Mit einer Bezugspflege wäre sie möglicherweise erst gar nicht passiert.
*Name von der Redaktion geändert
Die Autorin arbeitet als Redakteurin bei der "tageszeitung" in Berlin.