REFORM
Das zum 1. Juli in Kraft getretene Pflege-Weiterentwicklungsgesetz bringt Betroffenen viele notwendige Verbesserungen. Aber es mangelt nach wie vor an soliden Finanzen und Vertrauen ins System
Woran erkennt man in der Politik eine Reform mit geringer Tragweite? Ganz einfach: Der Reformprozess fängt mit Streit an - zunächst um Grundsätzliches, später um Randnotizen. Es folgt die Erkenntnis, dass das politische Gezerre nicht geeignet ist, das Thema positiv zu besetzen. Plötzlich wollen alle schnell zum Ende kommen. Der politische Fluchtweg lautet Kompromiss - und entsprechend leise treten solche Reformen dann in Kraft. So geschehen bei der Reform der Pflegeversicherung zum 1. Juli, deren finanzielle Bestandskraft nach Meinung vieler Ökonomen spätestens 2015 endet.
Abgesehen von diesem fundamentalen Mangel bringt das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, so der offizielle Titel der Reform, durchaus einige Verbesserungen für Betroffene, Angehörige und die Pflegebranche: Erstmals seit 1995 werden die Pflegesätze vor allem in der ambulanten Pflege in drei Stufen bis 2012 angehoben (siehe Seite 3). Neu: Für altersverwirrte Menschen gibt es monatlich 100 bis 200 Euro Finanzhilfe extra.
Bei der vollstationären Pflege steigen die Sätze allerdings nur für Patienten der Stufe III und bei den Härtefällen. Gewinner der Reform ist also eher der häusliche Pflegebereich, was Betroffenen und Angehörigen entgegenkommt, denn die meisten Menschen wünschen sich nach wie vor eine Betreuung in den eigenen vier Wänden. Politisch ist dies auch gewollt, um die vermeintlich teurere Unterbringung im Pflegeheim so lange wie möglich hinauszuzögern. Das politisch gern genutzte Kostenargument sehen Experten allerdings skeptisch, denn bei der ambulanten Betreuung schwerer Pflegefälle (Stufe II oder III) werden schnell 3.000 bis 4.000 Euro monatlich fällig.
Die Mehrausgaben der Pflegereform in Höhe von rund 2,5 Milliarden Euro müssen über höhere Beitragssätze finanziert werden. Der gesetzliche Pflegebeitragssatz steigt von 1,7 auf 1,95 Prozent, Kinderlose zahlen 2,2 Prozent bis zur Beitragsbemessungsgrenze in Höhe von 3.600 Euro des beitragspflichtigen Einkommens. Rentner tragen den vollen Beitragssatz allein, allerdings profitieren sie auch am meisten von den Leistungen einer Versicherung, die es erst seit 13 Jahren gibt und in die sie bisher gar nicht oder nur wenig eingezahlt haben.
Die Anhebung der Pflegesätze war mehr als überfällig, zumal jetzt schon klar ist, dass der Zuwachs den inflationsbedingten Verlust kaum ausgleichen kann. Insofern ist die Erhöhung richtig, aber kein Grund zum Jubeln. Ein Beispiel: Von August an bekommt ein schwer Pflegebedürftiger (Stufe III), der rund um die Uhr von seinen Angehörigen versorgt wird, 675 statt 665 Euro, im Jahr 2012 dann 700 Euro monatlich.
Als weitere Neuregelung soll künftig über die Pflegestufen zusätzliches Geld in die so genannte Tagespflege fließen und pflegenden Angehörigen Entlastung schaffen. Die Idee ist vergleichbar mit der Kinderbetreuung: Um arbeiten zu gehen oder einfach mal eine Pause zu bekommen, können Angehörige die Pflegebedürftigen tagsüber in eine Betreuung geben. Diese bisher fast bedeutungslose Betreuungsform dürfte einen Boom erleben - gerade für Familien, die sich um ihre Eltern kümmern wollen und dies auch können, weil sie noch in der Nähe leben, ist diese Mischform aus häuslicher Pflege und Tagesbetreuung sehr attraktiv.
Pflegeexperte Reinhold Schnabel von der Universität Essen bestätigt zwar die Stärkung der häuslichen Pflege, warnt aber vor zu romantischen Vorstellungen. Weniger Heime werde es dadurch nicht geben. Im Gegenteil: "Das Branchenwachstum wird sich bis 2050 noch beschleunigen, wegen der demografischen Entwicklung und weil das familiäre Pflegepotenzial zurückgeht", so Schnabel. Der Anteil der Menschen, die zu Hause gepflegt werden, sank schon zwischen 1994 und 2004 von 77 auf 68 Prozent. Tatsächlich leben die Generationen oft nicht mehr an einem Ort oder die Kinder der Rentner schaffen den Spagat zwischen eigener Familiengründung, Berufstätigkeit und eigener Altersvorsorge kaum noch.
Wer häusliche Pflege stärken möchte, muss sie auch organisierbar machen. Hier bietet die Reform tatsächlich einen großen Fortschritt: Angehörige können künftig bis zu zehn Tage unbezahlten Pflegeurlaub im akuten Pflegefall nehmen. Neu geschaffen ist für Arbeitnehmer außerdem die Möglichkeit, sich bis zu sechs Monate für die Pflege Verwandter unbezahlt freistellen zu lassen. Beides gilt nur in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten - damit sind nach Angaben des Sozialverbands Deutschland rund fünf Millionen Beschäftige von diesen Möglichkeiten ausgeschlossen; ganz so, als stünden sie nicht vor der Sorge um einen familiären Pflegefall. Bei der Elternzeit gibt es diese betriebliche Rücksichtnahme nicht, warum also bei der Pflege der Alten oder Kranken in der Familie?
Für eine wirkliche Verbesserung - ohne derlei kleingedruckte Einschränkungen -könnte dagegen die schärfere Qualitätsüberwachung der etwa 10.400 Pflegeheime und 11.000 ambulanten Dienste in Deutschland durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) sorgen: Von 2011 an werden die MDK-Mitarbeiter die Einrichtungen jährlich statt wie bisher im Schnitt nur alle fünf Jahre unter die Lupe nehmen. Die Ergebnisse der unangemeldeten Kontrollen werden umgehend veröffentlicht. Tauchen Missstände wiederholt auf, müssen die Betreiber sehr schnell mit einer Schließung rechnen. Der Druck auf die Betreiber steigt zu Recht: So wurde im zweiten MDK-Bericht 2007 aufgedeckt, dass ein Drittel aller untersuchten Heimbewohner nicht ausreichend ernährt wurde. Bei jedem zehnten wurde sogar eine "gesundheitliche Schädigung" diagnostiziert.
Bei der Suche nach einem geeigneten Heim oder bei der häuslichen Pflege sollen Pflegestützpunkte Angehörige künftig unterstützen. Der Haken: Während des politischen Streits um die Pflegereform wurde die Verantwortung, ob, wie und wann es solche Stützpunkte geben wird, auf die einzelnen Bundesländer übertragen. Entsprechend föderalistisch-chaotisch läuft dies jetzt ab. Thüringen beispielsweise will aus Kostengründen überhaupt keine Stützpunkte. Bayern moniert Doppelstrukturen parallel zu den Krankenkassen und Zusatzbürokratie - was nicht völlig abwegig ist.
Insgesamt bringt die Pflegereform gute Ansätze, mehr Rechte für die Betroffenen und mehr Geld, aber keine Nachhaltigkeit: Die Reform hat ein System manifestiert, das nach wie vor höchst umstritten, ungerecht und demografieanfällig ist. Während die heutigen Rentner von der Pflegeversicherung profitieren, haben die geburtenstarken Jahrgänge, die ihr Leben lang eingezahlt haben, nur noch wenig zu erwarten. Wenn sie in Rente gehen, bekommt die Pflegeversicherung ein dramatisches Finanzierungsproblem. Entsprechend gering ist das Vertrauen in das System, entsprechend groß ist die Angst vor dem eigenen Altwerden. Ursprünglich war im Koalitionsvertrag ein vor dem Zugriff der Politik geschützter Kapitalstock als Demografiereserve vorgesehen, um genau diese Fehlentwicklung abzumildern. Doch die SPD lehnte dies ab, weil die Union umgekehrt einem Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung nicht zustimmen wollte. So scheiterte eine strukturelle Reform am ideologischen Detail. Was bleibt? Viele sinnvolle Verbesserungen in der Pflegeversicherung - und ein auf Sand gebautes System.