Historikerstreit
Steffen Kailitz und Volker Kronenberg zu den Nach- und Auswirkungen der Debatte
Wer Historiker für entspannte, sorgfältig abwägende und zahme Zeitgenossen gehalten hatte, wurde spätestens Mitte der 1980er-Jahre eines Besseren belehrt. Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik wurde so aufgeregt, so tendenziös und so verbissen über die Deutung der NS-Verbrechen und deren Bedeutung für das deutsche Nationalbewusstsein debattiert wie im "Historikerstreit". Handelte es sich doch weniger um eine wissenschaftliche als vielmehr um eine politisch-polemische Kontroverse, die namhafte Historiker und andere Intellektuelle 1986 entfachten und diese für jedermann sichtbar in zwei Lager spaltete. In das Lager der konservativen Demokraten, die einer Historisierung des Nationalsozialismus das Wort redeten und das Lager der linksliberalen Demokraten, die auf die Singularität der dunkelsten Epoche der deutschen Geschichte pochten. Während die eine Seite "Auschwitz" mit anderen historischen Verbrechen vergleichen wollte, verabsolutierte die andere die Vernichtung der europäischen Juden. Für einen Mittelweg gab es damals keinen Platz.
Heute, nach 20 Jahren sieht das freilich anders aus. Aus der zeitlichen Distanz weiß man natürlich, dass weder die eine noch die andere Position das kollektive Geschichtsbewusstsein und Nationalgefühl der Deutschen ausschließlich hat prägen können. Der für die NS-Forschung wenig ergiebige Schlagabtausch ist nun selbst Gegenstand der Geschichte geworden, so dass endlich "eine wissenschaftliche Bilanz über die politisch-kulturelle Bedeutung des ‚Historikerstreits' und über den wissenschaftlichen Gehalt der im Historikerstreit präsentierten Positionen gezogen" werden kann, wie es acht Politologen und Historiker in Steffen Kailitz' Sammelband "Über die Gegenwart der Vergangenheit" unternommen haben. Nichts anderes haben auch Volker Kronenberg und seine zehn Autoren im Sinn, wenn sie in einer thematisch ähnlich gelagerten Aufsatzsammlung des gleichen Verlags "den ‚Historikerstreit' als Ganzes oder wesentliche Aspekte desselben in den Blick nehmen". Wieso aus beiden Publikationen nicht eine Gesamtschau gemacht worden ist, bleibt das Geheimnis der Herausgeber und des Verlages.
Bei genauerer Betrachtung lassen sich zwischen beiden Büchern jedoch kleine, aber feine Unterschiede feststellen. Während sich der Band des Dresdener Politikwissenschaftlers Kailitz stärker auf die allgemeinen geschichtspolitischen Dimensionen und Besonderheiten des Streits konzentriert, durchleuchten die von Kronenberg gewonnenen Wissenschaftler wesentlich intensiver die Position und Positionen Ernst Noltes, der mit seinem im Juni 1986 in der FAZ erschienenen Artikel "Vergangenheit, die nicht vergehen will" den Philosophen Jürgen Habermas zu einer bitterbösen Replik ermuntert und damit den Historikerstreit ins Rollen gebracht hat. Allein vier Beiträge beschäftigen sich mit der überwiegend positiven Rezeption von Noltes Thesen in Italien und Frankreich. Aber auch in den meisten anderen Beiträgen des Kronenberg-Bandes wird der bis heute höchst umstrittene Historiker in einem tendenziell günstigeren Licht betrachtet, als das sonst in Deutschland der Fall ist.
Freilich haben die meisten Autoren nicht die Absicht, den "historischen" Streit in der Gegenwart fortzuführen und für den einen oder anderen Protagonisten von damals polemisch Partei zu ergreifen. Aber es ist doch auffällig, dass es den Autoren von Kailitz viel mehr darauf ankommt, das Phänomen in seiner allgemeinen Bedeutung für die politische Kultur der Bundesrepublik zu deuten und die wissenschaftliche Tragfähigkeit in den Aussagen der damaligen Protagonisten herauszudestillieren, als einen der Kombattanten moralisch wie fachlich zu rehabilitieren und zu verteidigen, wie es Kronenberg und seine Autoren zuweilen sehr engagiert tun.
Nur wenige Beiträge sind so ausgewogen wie der von Armin Pfahl-Traughber, der mit Habermas' polemischer Rhetorik ebenso scharf ins Gericht geht wie mit Noltes eindimensionaler Faschismusinterpretation. Fachlich fundiert und argumentativ überzeugend weist er beiden die manipulative und akademisch unzulängliche Verwendung oder Missachtung von Zitaten und Quellen nach. Auch der Göttinger Historiker Uffa Jensen legt dezidiert und sachlich offen, wie Jürgen Habermas den Historikerstreit erinnerungspolitisch instrumentalisierte, um die linksliberale Deutungshoheit über die deutsche Vergangenheit zu behalten und für einen Verfassungspatriotismus zu werben, der erstmals in der Geschichte auf einem Schuldbekenntnis gründen sollte. Jensen hat dabei jedoch kein Interesse daran, diese mittlerweile obsolet gewordene Haltung nachträglich abzusichern oder zu kritisieren. Er möchte vielmehr zeigen, wieso sich die extremen Positionen von Habermas und Nolte nicht durchsetzen konnten und nach zwanzig Jahren statt eines Stolzes auf Deutschland vielmehr ein "Stolz auf die nationale Erinnerungskultur" zu beobachten ist, den Konservative und Linke mittlerweile teilen.
Dass die tiefen Gräben von damals heute weitgehend überwunden sind und der erinnerungspolitische Diskurs in punkto NS-Verbrechen heute viel sachlicher und weniger polemisch geführt wird, zu diesem Schluss kommen auch die Autoren in Kronenbergs Band. Viele von ihnen beginnen den Historikerstreit selbst zu historisieren und im Kontext des bundesrepublikanischen Selbstverständnises zu deuten. In der Tat muss man vor allem dem Freiburger Geschichtsprofessor Ulrich Herbert beipflichten, dass die "akademische Schlammschlacht" nur verständlich wird, wenn man den politischen und wissenschaftlichen Kontext der Zeit als auch den biografischen Hintergrund der Akteure beleuchtet. Also den linksintellektuellen Widerstand gegen Kohls "geistig-moralische Wende" ebenso berücksichtigt wie den Umstand, dass der Holocaust Mitte der 1980er-Jahre noch ein blinder Fleck in der bundesdeutschen Forschungslandschaft war und die Sicht der Streithähne von ihren eigenen Kriegserlebnissen getrübt wurde. Kein Wunder, dass sich in diesem Meinungsklima weder ein natürlicher Patriotismus noch künstlicher Verfassungspatriotismus entfalten konnten, wie Eckhard Jesse und Volker Kronenberg mit ihren Beiträgen zeigen.
Nicht nur die Wiedervereinigung, der Zusammenbruch des Kommunismus und die neue weltpolitische Verantwortung Deutschlands haben hierzulande und quer durch alle politischen Lager einen "gelassenen Patriotismus" (Jesse) und eine unverkrampftere Deutung des Nationalsozialismus entstehen lassen. Sondern auch die Lehren aus dem Historikerstreit, der zweifellos einen Tiefpunkt der intellektuellen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik darstellte, aber gerade deswegen besonders gut zur politischen Aufklärung taugt. Insofern regen die Beiträge von Friedrich Pohlmann, Brigitte Seebacher und Manfred Funke dazu an, sich "im Lichte des Historikerstreites" darüber klar zu werden, welche Fehler in zukünftigen Debatten vermieden werden sollten, damit sie politisch und wissenschaftlich fruchtbar werden können. Dass Kronenberg und seine Autoren daher für eine "Verständigungskultur" plädieren, die frei von der "Attitüde ideologischer Richtigkeit" und um die "argumentative Aufrichtigkeit" bemüht ist, lässt sich nur begrüßen. Dass einige Wissenschaftler den im Meinungskampf unterlegenen Nolte für seine unorthodoxen, mitunter auch anregenden Ansichten rühmen (Pohlmann: "Marksteine einer philosophischen Geschichtsschreibung"), um die ideologischen "Attitüden" der Linken in einem besonders trüben Licht erscheinen zu lassen, spricht nicht für eine differenzierte Sicht auf das Werk dieses "Geschichtsphilosophen".
Dennoch findet in Umkehrung des damals von Habermas über seine Gegner verhängten Verdikts in beiden Sammelbänden "eine Art Schadensabwicklung" statt. Und zwar eine, die Erkenntnisse nicht verhindert, sondern fördert.
Die Gegenwart der Vergangenheit. Der "Historikerstreit" und die deutsche Geschichtspolitik.
VS-Verlag, Wiesbaden 2008; 154 S., 24,90 ¤
Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik. Der "Historikerstreit" - 20 Jahre danach.
VS-Verlag, Wiesbaden 2008; 204 S., 24,90 ¤