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Dreiviertel der 17-Jährigen sagen, sie hatten schon welchen - andere warten bis nach der Hochzeit
Angefangen hat es zwischen Rebekka und Thomas mit einer Tomatensuppe: Nach einer Geburtstagsfeier gab sie ihm die Reste der Suppe mit. Dann brachte er den Topf wieder zu ihr, sie redeten, tippten in den folgenden Wochen unzählige SMS in ihre Handys und irgendwann kamen sie zusammen. Mittlerweile sind die beiden 22-Jährigen aus Chemnitz seit anderthalb Jahren ein Paar, halten Händchen, küssen sich, schauen sich verliebt an. Geschlafen haben sie noch nicht miteinander. "Die Bibel besagt, dass ein Paar vor Gott verheiratet ist, sobald es miteinander schläft. Deshalb denke ich, dass Sex nur in eine Ehe gehört", sagt Rebekka. Thomas sieht das genauso.
Rebekka spricht gern in Bildern, wenn sie ihre Sicht auf die Welt erklärt. Sie stelle sich eine Beziehung zum Beispiel wie ein Dreieck vor: Ganz unten stehe als Basis für alles die Freundschaft, dann komme die Romantik und an der Spitze des Dreiecks stehe der Sex. Ihren Körper vergleicht die Ergotherapeutin mit einem Apfel. Wenn sie mehrere Männer von diesem Apfel abbeißen lassen würde, bliebe am Ende nur noch ein Griebs übrig. Da schenke sie Thomas doch lieber den ganzen Apfel.
Die evangelische Kirche hält sich mit solcherlei Apfel-Geschichten eher zurück. Zu weit weg ist das Prinzip "Kein Sex vor der Ehe" mittlerweile vom Leben der meisten Gläubigen. Nicht einmal eine offizielle Stellungnahme der evangelischen Kirche gibt es zu diesem Thema. Auch die "Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend" (AEJ) bezieht als Dachverband der Jugendorganisationen nicht klar Stellung. "Es gibt zu diesem Thema ganz unterschiedliche Positionen innerhalb der evangelischen Kirche", erklärt Michael Freitag, Referatsleiter für Theologie, Bildung und Jugendsoziologie bei der AEJ. "Meiner Meinung nach ist es nicht sinnvoll, Sex vor der Ehe zu verbieten. Das hat mit der Realität der heutigen Jugend nichts zu tun. Jugendliche müssen lernen, verantwortlich mit ihrer Sexualität umzugehen." Andreas Mauritz, Bundespräses beim Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ), ist ähnlicher Meinung: "Wir sehen es nicht als unsere Aufgabe, zu bewerten, wann Jugendliche Sex haben sollten. Aber wir wollen sie zu mündigen Menschen erziehen, die Verantwortung für sich und ihren Körper übernehmen und nichts tun, was dem anderen nicht gefällt." Freitag und Mauritz bezweifeln gar, ob die Bibel Sex vor der Ehe überhaupt verbietet. "Da steht nicht drin: Du sollst nicht vor der Ehe mit deinem zukünftigen Mann schlafen", sagt Freitag.
Tatsächlich finden sich in der Bibel nur mehrdeutige Aussagen zu diesem Thema. "Damit ihr nicht der Unzucht verfallt, soll jeder Mann seine Ehefrau haben und jede Frau ihren Ehemann", heißt es etwa im ersten Korintherbrief. Ein Sexverbot vor der Ehe oder eine Empfehlung dazu würde die meisten Jugendlichen ohnehin überfordern, vielleicht sogar verschrecken. Dreiviertel aller deutschen 17-Jährigen hatten bereits Sex - nicht einmal ein Prozent aller Jugendlichen sind beim ersten Mal schon verlobt, geschweige denn verheiratet.
Michael Müller aus Bensheim würde das gern ändern. Der 35-Jährige hat die Aktion "Wahre Liebe wartet" vor 14 Jahren aus den USA nach Deutschland importiert. "Wir sprechen einen Wunsch vieler Jugendlicher an, nämlich enthaltsam zu leben. Der liegt vielleicht manchmal tief verschüttet", glaubt er zu wissen, aber es gebe ihn.
Bei manchen liegt der Wunsch nach sexueller Enthaltsamkeit vor der Ehe offenbar so tief, dass es eine Karte braucht, um sich dieses Wunsches immer wieder bewusst zu werden. Wer will, erhält über "Wahre Liebe wartet" eine Verpflichtungskarte, die er ausfüllen und damit versprechen kann, bis zum Tag der Heirat Jungfrau zu bleiben. Wer dem nicht gerecht wird, muss freilich nicht mit einer Strafe, wohl aber einem schlechten Gewissen rechnen. "Wer die Selbstverpflichtung übertritt, läuft mit Schuldkomplexen herum und ich glaube, dass diese Zwanghaftigkeiten krank machen können", sagt Michael Freitag von der AEJ. Andreas Mauritz steht vor allem amerikanischen Enthaltsamkeits-Kampagnen skeptisch gegenüber: "Es wird viel Geld dafür ausgegeben, dass Jugendliche keinen Sex haben. Das funktioniert aber nicht. Dieses Ideal haben sich Erwachsene ausgedacht, es hat eher eine steigende Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen und Aids-Infektionen zur Folge."
Auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung steht solchen Kampagnen skeptisch gegenüber: "Jugendliche wünschen es sich verbal vielleicht tatsächlich, enthaltsam zu bleiben, aber sie praktizieren es häufig so nicht und geraten dann in Schwierigkeiten, weil sie nicht viel über Verhütung wissen und schlechter aufgeklärt sind", sagt Eckhard Schroll, Abteilungsleiter für Sexualaufklärung.
Bei aller Kritik treffen Kampagnen wie "Wahre Liebe wartet" auch auf ein Bedürfnis vieler Jugendlicher: Ein Bedürfnis danach, dass Sex als etwas Besonderes wahrgenommen wird, etwas Exklusives und Intimes. Nichts, womit man ständig in Werbespots und TV-Serien konfrontiert werden möchte.
Auch Thomas Lauterbach stört sich an der "Übersexualisierung der Gesellschaft". Da werde ein falsches Bild von Liebe und Sexualität vermittelt, kritisiert er. Das eine habe gar nichts mehr mit dem anderen zu tun. Thomas ist 30 und seit zwei Jahren mit Stefanie verheiratet. Auch die beiden hatten vor der Ehe keinen Sex - aus religiöser Überzeugung. "Das Wichtigste in meinem Leben ist die persönliche Beziehung zu Jesus", sagt Thomas. Erst dann komme die Beziehung zu seiner Frau. Das klingt für Atheisten vermutlich unverständlich und würde wohl auch nicht funktionieren, wenn Stefanie nicht auch religiös wäre. "Ich könnte gar nicht mit jemandem zusammen sein, der nicht an Gott glaubt", gibt der Modellbauer zu. Stefanie ist nicht sauer, wenn er so etwas sagt. Sie sitzt dann ruhig neben ihm, legt die eine Hand auf ihren runden Baby-Bauch, die andere auf Thomas' Oberschenkel und fügt hinzu, dass die Beziehung zu Gott eine andere sei als zu einem Menschen: "Zu Gott kann man immer kommen."
Thomas ist bisweilen konservativer und strenger im Glauben als so mancher Pfarrer. Homosexualität sei heilbar und Selbstbefriedigung egoistisch, sagt er zum Beispiel und meint es auch so. "Ich finde es auch traurig, wenn so ein großer Wert wie sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe von der Kirche nicht mehr so ernst genommen wird. Der Maßstab sollte doch die Bibel sein und nicht die Zeit, in der wir leben." Doch das ist heute anders. Der durchschnittliche Deutsche heiratet im Alter von 28 bis 30 Jahren, den ersten Sex haben die meisten schon vor dem 18. Lebensjahr.
Auch Rebekka und Thomas sind mit christlichen Werten aufgewachsen. Doch die Entscheidung, Sex erst nach der Hochzeit zu haben, fällt man nicht, weil man in die Kirche geht und früher zu Hause abends aus der Bibel vorgelesen wurde. Dazu braucht es mehr: einen festen Glauben, Disziplin und einen religiösen Freundeskreis. Schließlich geben die jungen Chemnitzer zu, dass es oft nicht so leicht sei, Stopp zu sagen. Sie müssten sich selbst ganz klare Grenzen setzen, damit sie der Versuchung entgehen, vor der Ehe miteinander zu schlafen. "Wir schlafen nie beieinander. Freunde finden es manchmal komisch, dass ich auch nach einer langen Geburtstagsfeier noch nach Hause fahre, anstatt bei Thomas zu übernachten. Aber wir brauchen solche Regeln", sagt Rebekka. Schließlich könnten sie den Sex auch nicht genießen, wenn sie trotz aller frommen Wünsche jetzt doch schwach würden. All zu lange müssen die beiden ohnehin nicht mehr warten. Am 6. Juni dieses Jahres kann sich Thomas auf den ganzen Apfel freuen. Dann heiraten die beiden.
Die Autorin ist 20 Jahre alt und studiert in Leipzig Politikwissenschaft.