soziales Jahr
Antonia Kühnemund war nach dem Abitur in einem Kinderheim in Russland. Ein Erfahrungsbericht
Sie lacht. Und nicht nur das. Sie hat auch aufgehört, sich die Hände zu kneten und mit den Zähnen zu knirschen. Sie sitzt auf dem Klavier, schaut mich mit großen, blauen Augen an und wippt leicht mit dem Oberkörper im Takt der Musik. Sie strahlt, als hätte sie noch nie so schöne Musik gehört. Das ist das erste Mal, dass sie das tut. Jedenfalls bei mir. Die kleine Olga ist 13 Jahre alt und normalerweise ständig total angespannt. Sie bläht den Bauch auf, hält die Luft an, verkrampft ständig jeden Muskel. Aber es gibt einen Zugang zu ihr: Musik. Ich habe es einfach einmal ausprobiert, sie auf das Klavier gesetzt, damit sie die Vibration der Töne spürt, und ihr etwas vorgesungen. Es hat geklappt. Für mich ist es das erste positive Erlebnis im Kinderheim Pawlowsk Nummer 4 für behinderte Kinder. Eine Woche nach der Ankunft in Russland habe ich das ganz dringend gebraucht. Weil ich schon gespürt hatte, wie meine Kraft, meine Zuversicht und meine Ideen mich verließen.
In Deutschland haben alle die Augenbrauen hochgezogen, als ich ihnen von meinem Vorhaben erzählt habe, für ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) nach St. Petersburg zu gehen. Und auch noch in ein Kinderheim für behinderte Kinder, wovon ich doch gar keine Ahnung hatte… Das werde schwer, ich würde an meine Grenzen stoßen, hatte es immer wieder geheißen.
Klar, das wusste ich alles selbst. Ich sah es als großes Abenteuer an, ein Jahr in ein fremdes Land zu gehen, dessen Sprache ich nicht beherrsche. Ich wusste nichts über Russland, außer, dass es da Wodka und Matrjoschkas gibt und alle Borschtsch, die russische Rote Bete-Suppe, essen. Ich wollte mir das Abenteuer nicht von den Menschen versauen lassen, die drohend den Zeigefinger erhoben - aber von dem was mich erwarten würde keine Ahnung hatten. Also hatte ich mir über den freien Träger "Perspektiven e.V." dieses Projekt in Pawlowsk ausgesucht und hatte fest vor, es durchzuziehen.
Aber ich musste mir in der ersten Arbeitswoche eingestehen, dass sie Recht hatten mit ihren Bedenken. Pawlowsk war die Hölle. Nicht, dass mich die verrosteten Busse und Bahnen sonderlich gestört hätten oder der ständige Geruch von Gas in unserer Küche und in unserem Bad, dessen Durchlauferhitzer auch gerne mal kleine Explosionen hervorrief. Ich hatte auch nichts gegen die russische Sprache oder die Verständigungsschwierigkeiten auf einem Kauderwelsch aus Deutsch und Englisch. Damit hatte ich ja gerechnet. Aber ich konnte einfach nicht ertragen, wie es den Kindern in Pawlowsk geht. Schreckliche Tristesse. Keine Farbe an den Wänden. Keine fröhlichen Kinder. Das sollte wirklich ein Kinderheim sein? Stattdessen Schreie von hungrigen Kindern, Gestank nach Frühstücksbrei und Desinfektionsmittel. Und graue Wände.
Die Kinder mussten fast den ganzen Tag im Bett liegend verbringen, manche sind die ersten vier Jahre ihres Lebens nicht aus dem Bett herausgenommen worden. Sie können nicht sprechen, sie lachen nicht, sie schreien nur. Verständlicherweise schreien sie, denke ich. Aber wie sollte ich ihnen helfen, ein menschenwürdiges Leben zu führen?
Ich war als Freiwillige dafür da, das Pflegepersonal zu unterstützen. Außerdem sollte ich die Kinder aus den Betten nehmen und mit ihnen nach draußen gehen oder in das Spielzimmer. Ich sollte mich mit ihnen beschäftigen und sie nach ihren Möglichkeiten fördern. Doch ich bin keine Therapeutin und habe auch keine Ahnung, wie man professionell mit welcher Behinderung umgeht.
Als Olga vom Klavier auf mich herabstrahlte, wurde mir das erste Mal bewusst, wie viel ich den Kindern geben kann. Es geht nicht darum, die richtige Therapie anzuwenden. Sondern um die Zuneigung, die man den Kindern entgegenbringt. Von da an habe ich mich viel intensiver mit den Kindern auseinandergesetzt: habe Berichte von anderen Freiwilligen gelesen, mich über die Behinderungen informiert und mir zeigen lassen, wie man Spastiken löst. Die Kinder belohnten meine Arbeit mit ihrem Lächeln. Und ab und an gab es Erfolge wie mit Olga. Die Arbeit machte mir immer mehr Spaß. Doch auf den Herbst folgt auch in Russland der Winter - nur, dass er dort um einiges härter und länger ist, als in Deutschland.
Die Kälte war nicht das eigentliche Problem. Die Schneelandschaft war schön anzusehen und in der Wohnung war es wohlig warm. Was mir wirklich auf das Gemüt drückte, war die ständige Abwesenheit der Sonne. Es war nur vier Stunden hell, und die verbrachte ich meistens bei der Arbeit. Man hält es vielleicht eine Woche ohne Tageslicht aus, aber spätestens nach der zweiten ist man einfach nur deprimiert. Diese Mutlosigkeit ging auf die Kinder über, sie wurden schneller krank, waren lange nicht so fröhlich wie im Sommer.
Es macht keine Spaß, im Winter in Russland zu arbeiten. Wir hatten oft mit Wasserausfällen zu kämpfen. Oder es wurde Quarantäne über die Gruppe verhängt, was bedeutete, dass wir kein einziges Kind mehr für zwei Stunden in eines der Spielzimmer mitnehmen durften. Irgendwie musste ich mich da durchquälen. Es ging oft an meine Grenzen. Aber ich habe immer wieder den Mut gefasst, dass ich ja genau deswegen nach Russland gekommen bin: um an meinen Aufgaben zu wachsen.
Als die Sonne sich wieder zeigte und der Schnee schmolz, brach die schönste Zeit an - der Sommer. Ich bin sehr froh darüber, dass ich mich durch den Winter gekämpft habe. Im Sommer bekam ich alles zurück, was mir im Winter gefehlt hatte. Ich hatte neue Ideen und wieder Motivation, mich bei der Arbeit besonders anzustrengen, um mit den Kindern neue Fortschritte zu machen. Zum Beispiel für Sonja, der eine Lebenserwartung von acht Jahren vorausgesagt worden war und die mit ihren mittlerweile 17 Jahren unser Gruppen-Weltwunder ist. Sie hat einen Wasserkopf, dem nie eine Ableitung gelegt wurde. Deswegen schwillt er immer weiter an. Aber sie hat ihren Lebensmut nicht aufgegeben und lacht immer ganz fröhlich, wenn man sich mit ihr beschäftigt.
Im Sommer habe ich sie dazu bekommen, eine Rassel zu schütteln, obwohl sie niemals vorher etwas in die Hand genommen hat. Sie war nicht die Einzige, die solche Fortschritte machte. Dazu konnte ich endlich genug russisch, um Gesprächen zu folgen, meine Meinung zu äußern. Wir haben im Frühling und Sommer mit den Kindern auch Ausflüge gemacht, manchmal sogar für mehrere Tage. Wir sind auf einen Pferdehof gefahren, die Kinder sind jeden Tag geritten, ansonsten haben wir gespielt.
Für mich ist nichts in meinem Leben bisher so prägend gewesen wie dieses Jahr. Auch wenn mir der Anfang sehr schwer gefallen ist und ich mich durch schlechte Zeiten durchbeißen musste, habe ich nicht aufgegeben. Oft stand ich kurz davor. Das hat mir Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten gegeben und mich wachsen lassen. Wenn ich direkt nach der Schule in das Studium eingestiegen wäre, hätte ich noch nicht die Geduld und die Wissensbegierde mitgebracht, die ich in Russland erlernt habe. Das Russlandjahr hat mir neben meinen Erfahrungen auch die Zeit gegeben, in Ruhe über meinen Studienwunsch nachdenken zu können - und ich habe gespürt, was es bedeutet, etwas Sinnvolles zu tun.
Das Schönste, was ich aus Russland mitgenommen habe, sind Momente wie der mit der kleinen Olga auf dem Klavier. Und auch wenn es pathetisch klingt: Die Heimkinder sind in dem Jahr zu meinen Kindern geworden. Ihr Lächeln trage ich in meinem Herzen.