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Jugendliche leben heute nicht mehr nur in der Realität, sondern auch virtuell - so wie Sandra und Jojo
Tür aufschließen, Ranzen in die Ecke, Computer hochfahren. Sandra Metz hat es eilig, wenn sie aus der Schule kommt. Die 14-Jährige will noch ins Internet. Denn dort sind ihre Freundinnen. Es ist 14.22 Uhr, als Sandra fragt: "schon zu hause?" Jojo antwortet: "jap", Sandra: "guddi". Ein gelungener Auftakt für einen Chat. Da sind sie wieder: Die Freunde aus der Schule, aus dem Sportclub oder aus der Tanzschule.
Während sich Jugendliche vor gar nicht all zu langer Zeit nachmittags zum Fußball oder anderen Spielen trafen, öffnet sich heute um diese Zeit die Welt des Internets: mit Chaträumen, Google, Facebook, YouTube und Blogs. Eine aktuelle Umfrage von ARD und ZDF hat ergeben, dass das Internet inzwischen bei Jugendlichen das meistgenutzte Medium ist: Es wird jeweils etwa 20 Minuten länger genutzt als Fernsehen und Radio. Rund zwei Stunden pro Tag klickt sich die Jugend durch das Netz.
Sandra sitzt gebannt vor ihrem Computer. Ihre Augen starren auf den Desktop: Dort, wo jede Sekunde eine neue Instant Message - eine dieser elektronischen Nachrichten - aufblinken könnte. Ihr Rücken ist gekrümmt, die Nase stößt fast schon an den Bildschirm. Ganz so, als würde sie so ein Stück näher bei ihren Freundinnen sein, als wäre der Bildschirm nur ein Vorhang. Sandras Freundin, die da im Bildschirm wartet, heißt Jojo. Sie ist 14 Jahre alt. Und sie blinkt. Links oben im Bildschirm leuchtet ihr Name. Sandra klickt drauf. So macht sie das immer, wenn es blinkt auf ihrem Desktop. "Ich kann es nicht ausstehen, wenn Leute sich nicht sofort die neuen Nachrichten anschauen, sondern zum Beispiel noch einen YouTube-Film zuende laufen lassen", beschwert sie sich. Ständig abrufbar zu sein, das scheint die neue Nachmittagsbeschäftigung der heutigen Jugendlichen zu sein. "Ich schreibe in Chats genauso, wie ich auch reden würde. Das macht das Ganze viel natürlicher und lockerer", sagt Sandra. Und schon wieder blinkt es.
Natürlich hat sie auch ein Profil bei SchülerVZ, dem Online-Verzeichnis(VZ), in dem rund 4,5 Millionen Schüler registriert sind. "Das hat doch jeder heute", meint sie. Und gerade weil es jeder hat, ist es besonders wichtig, kreativ bei der Gestaltung zu sein. Sandra Metz hat sich einiges in ihrem Profil bei den großen Künstlern abgeschaut. Im Netz heißt sie nicht Sandra, sondern Ellie. Künftige Arbeitgeber würden sie unter diesem Namen nie finden und originell sei es auch, meint Sandra. Sie fühlt sich sicher mit ihrem Decknamen. Dafür gibt sie bereitwillig alle anderen Informationen preis: Seit Januar 2008 ist sie Mitglied bei SchülerVZ, sie besucht das Gymnasium, trägt Zeitungen aus, hasst Chemie und arrogante Tussen, ist auf der Suche nach Dates. Ach ja, und sie ist unpolitisch und der Meinung: "An meinen Noten sind die Lehrer Schuld!" An ihrem Profil ist Sandra ausschließlich selbst Schuld. Und sollte das jemals von einem Personalchef gefunden werden, dann sieht es vermutlich etwas schlechter aus für Sandra und die Karriere.
Jojo findet es cool, all ihren Freunden zu erzählen, sie sei eine "faule Sau" und langweile sich in Deutsch. Eine der Gruppen, denen sie bei SchülerVZ beigetreten ist, heißt: "Ich bin ein dicker bärtiger Mann, der nackt am Rechner sitzt."
Nackt ist sie im übertragenen Sinn tatsächlich: entblößt mit ihren eigenen Schwächen. Angetrieben von der Sorge, ihren Freundinnen irgendwann einmal nicht mehr cool genug zu sein. Das Profil eines Jugendlichen bei einem sozialen Netzwerk wie SchülerVZ ist ein ständig aktualisierter Lebenslauf. Nur geht es darum, sich nicht möglichst gut, sondern möglichst rebellisch und cool darzustellen. Mitglied der schwachsinnigsten Gruppen zu sein, gehört für viele dazu.
Im Chat sind Sandra und Jojo die beiden 14-Jährigen allerdings allein. Sie müssen dort niemandem etwas beweisen. Und schon wird aus Sandra, die auf ihren Profilfoto bei SchülerVZ lässig mit einer Sonnenbrille vor den Augen im Auto sitzt, ein pubertierendes Mädchen, dass sich um ihren Freund, die Schuhe und die Klamotten Sorgen macht.
Sandra: "und du hast noch keine schuhe oder?"
Jojo: "neeein aber meine mutter geht morgen sowieso shoppen also geh ich da einfach mit"
Sandra: "oh shit. ich habe meine im allerletzen laden gefunden^^ für 25 Euro. ich hoffe ich gefalle sören^^"
Jojo: "ja na klar"
Sandra: "wasn wenn der das alles scheiße findet?"
Jojo: "ach quatsch"
Sandra: "was wenn doch?"
Jojo: "allein wegen dem ausschnitt findet ers geil :P"
Sandra: "hoffe ich. wenn nich, dann dreh ich wieder um^^ und geh heim^^
oder such mir nen andren der mich hübsch findet dort^^ lol"
Jojo: "haha"
Für viele Jugendliche ist Chatten und bei YouTube nach lustigen Videos suchen längst fester Bestandteil der Freizeitgestaltung. Dass das zur Sucht werden kann, ist schon länger bekannt. Doch erst seit Kurzem bemühen sich Mediziner ernsthaft darum, Mediensucht zu einer anerkannten Krankheit zu erklären. Ende 2008 wurde deshalb in Lüneburg der Fachverband Medienabhängigkeit gegründet. Die Gründer erhoffen sich, betroffenen Menschen künftig bei der Diagnose und Behandlung der Krankheit besser helfen zu können. Anders als die Glücksspielsucht ist Medienabhängigkeit erst wenig erforscht. Dabei sprechen die Zahlen eine klare Sprache: Neun Prozent der 15-Jährigen spielen in Deutschland mehr als 4,8 Stunden täglich am Computer. Fünf Prozent der Jugendlichen weisen Symptome einer Abhängigkeit auf. Das geht aus Zahlen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen hervor.
Auf Sandra und Jojo trifft das nicht zu. Sie seien nie allzu lange im Chat, würden aufhören, wenn es ihnen langweilig würde, erzählen die Beiden. Doch das kann dauern. Das Geheimnis beim Chatten: Alles möglichst in die Länge ziehen. "So verbringt man eben etwas mehr Zeit mit seinen Freunden, statt den ganzen Nachmittag alleine zuhause zu sitzen", sagt Sandra. Außerdem könne man nebenbei auch Sinnvolles machen: zum Beispiel Hausaufgaben. Wenn Fragen auftauchen oder bei Mathe das Ergebnis nicht stimmt, tippt Sandra ein paar Wörter in ihre Tastatur. Irgendwo ein paar Kilometer entfernt, blinkt es dann auf dem Bildschirm. Minuten später hat Sandra die richtige Antwort .
"Viel Zeit verbringe ich auch bei Wikipedia. Wenn ich ein Problem bei einer Hausaufgabe habe, dann ist das mein erster Ansprechpartner", sagt Sandra. Und wenn die Hausaufgaben gemacht, die Freunde offline und die Mama nicht in der Nähe ist um neue Aufgaben zu verteilen, dann wird "gegoogelt". Das heißt nichts anderes, als die Suchergebnisse von Google zu durchforsten. "Aber viele meiner Freunde suchen inzwischen lieber Videos bei YouTube oder MyVideo", erzählt Sandra. Sie selbst hält sich zurück: Schreiben reicht ihr.
Sandra: "hihi ich seh gerade
ich habe meinen rekord gebrochen
wir schreiben schon mehr als 450 zeilen miteinander in dem Chat hier^^"
Jojo: "haha"
Sandra: "das ist rekord für mich^^"
Es ist jetzt 16:27 Uhr. Sandra und Jojo chatten seit mehr als zwei Stunden. Ergebnis: Nächste Woche werden sie sich treffen, ein bisschen gegenseitig die Kleider bewundern, einfach einmal Freunde sein. So wie die Jugendlichen vor 30 Jahren, die sich noch richtig getroffen haben, um miteinander zu reden. Wenn die beiden Mädchen das Treffen am Ende doch noch absagen würden - dann jedenfalls nur per Chat. So gehört sich das heutzutage.
Der Autor ist 15 Jahre alt. Er geht noch zur Schule.