Perspektive
Wenn das Jugendzentrum der Mittelpunkt des Lebens ist. Begegnungen in Berlin
Drei Transparente flattern an der Fassade, direkt über der großen hölzernen Eingangstür. "Love" fordern sie, "Peace" und "Unity". Die Wände des Backsteingebäudes sind mit Graffitis besprüht, im Eingangsbereich, vor dem Aufgang zum Hochparterre, drängen sich Fahrräder und Kinderwagen. Von der Decke beäugt eine Überwachungskamera die Szene.
Hier, im Jugendzentrum Naunynritze in Berlin-Kreuzberg, im ehemaligen Postbezirk SO36, treffen sich Ferhat und Okan täglich. Für die Zeit, wenn das Jugendzentrum offiziell geschlossen hat, haben sie einen Schlüssel. "Wenn es die Naunynritze nicht gäbe, wären wir auf der Straße", sagt Okan. Der 18-Jährige wirkt erwachsen, gesetzt. Sein gestutzter Vollbart lässt ihn älter erscheinen. Das mit dem Alter höre er öfter: "Ist in Clubs ganz nützlich."
Ferhat nimmt seine Nike-Cappie vom Kopf und fährt sich durch die kurzen schwarzen Haare. Eigentlich ist er mit seinen 20 Jahren der Ältere, macht aber den jüngeren Eindruck: Er redet viel, schnell und mit ausladender Gestik. Er erzählt von seinen Geschwistern und den "alten Zeiten". Die Straßen um die Naunynritze seien früher ungemütlicher gewesen als jetzt, sagt Ferhat, heute sei man "sozialer". Der Ton war rauer, Auseinandersetzungen zwischen albanischen, türkischen und kurdischen Gangs gehörten zur Tagesordnung. Die "36erz", eine Gang, die es im Kiez zu traurigem Ruhm gebracht hat, erlebte ihren organisatorischen Höhepunkt. "Aus denen ist heute eine Marke geworden, man kann sogar Klamotten von denen kaufen", berichtet Ferhat fast wehmütig. Die Strukturen aber sind geblieben. Zumindest in den Köpfen. "Die ,Großen' sind bei den ,36erz'", beschreibt Okan den Aufbau der Gang "wir wären bei den ,36Boys'." In den Gangs geht es streng hierchisch zu.
Wenn Okan von den "Großen" spricht, meint er die 25- bis 40-Jährigen, die sich - oft ohne Job - einer Gang anschließen; zu häufig sind es die großen Brüder.
17 Prozent Arbeitslosenquote weist die Statistik für Kreuzberg aus und einen Ausländeranteil von rund 23 Prozent. "Manche behaupten, Kreuzberg wäre ein schlechter Kiez. Aber wir sind sauber, wir machen keinen Scheiß'", sagt Okan. Dabei stützt er sich mit den Unterarmen auf dem Tisch ab, beugt sich nach vorne: "Wir machen keinen Scheiß" - er sagt das mit besonderem Nachdruck.
Ihn beunruhigen die "Kids", die auf die schiefe Bahn geraten: "In der Werbung erzählen sie dir, dass du alles haben kannst, dass du alles werden kannst. Aber du kannst nicht alles haben, du kannst nicht alles werden. Und manche Kids haben das nicht verstanden." Okan hat es mittlerweile verstanden. Er musste es verstehen - wenn auch nicht gerade schmerzfrei.
Der 18-Jährige war einer der 76.000 Schüler, die die Schule jährlich ohne Abschluss verlassen. Aber nicht, weil er faul gewesen wäre. "Ich hatte immer gute Noten, war auch immer im Unterricht", beteuert er.
Okan steht kurz vor seinem Abschluss, als es Probleme in der Familie gibt. Er muss die Schule abbrechen, schlägt sich durch. Das Jobcenter schaukelt ihn von Maßnahme zu Maßnahme, sechs Monate lang. Er fühlt sich ausgenutzt. "Ich hatte Zeugnisse, alles. Nur eben keinen Abschluss." Die "Maßnahmen" erlebt er als Zeitverschwendung, als Schikane. In einem Mathekurs gibt es nicht einmal eine schriftliche Bestätigung, dass er ihn überhaupt besucht hat. "Warum soll ich dann noch mitarbeiten, wenn ich kein Zeugnis bekomme? Ich war in Mathe nie schlecht."
Als er einen Ausbildungsplatz gefunden hat, versucht das Jobcenter, Okan seinen Platz streitig zu machen. "Die haben nach irgendwelchen Gründen gesucht, warum ich angeblich nichts für den Beruf sei. Außerdem meinten die, dass das ohne Abschluss nicht gehen würde." Geschafft hat er es trotzdem. "Ich musste hart kämpfen, aber es hat geklappt."
Genüsslich lehnt sich Okan in seinem Stuhl zurück und pellt sich lässig aus der eng geschnittenen Lederjacke. Er grinst. "Ich bin eben ein Überredungskünstler." Übernommen wird er nach der Ausbildung nicht, aber er hat "den Grundstein gelegt" - für ein gutes Leben, wie er sagt.
Okan und Ferhat hätten es einfacher haben können. "Ich war dumm", räumt Ferhat ein. Nach der Schule hat er zwei Jahre lang in den Tag hinein gelebt, sich gehen lassen. "Ich bin mittags aufgestanden, habe Fernsehen geschaut, war feiern." Unangenehm ist es ihm nicht, über diese Vergangenheit zu sprechen. Er steht dazu. "Toll war das nicht, das ist mir klar", sagt er. Heute ist Ferhat im ersten Lehrjahr. Auch Okan hätte schon während seiner Schulzeit an die Zukunft denken können. Er war in der Theater-AG, tanzte sogar Ballett. Sein Talent wird entdeckt, ihm wird sogar eine professionelle Ausbildung angeboten. Aber Okan lehnt ab. "Ich hätte nach Essen ziehen müssen, das wollte ich nicht. Ich hätte mir das besser zweimal überlegen sollen, aber so etwas sagt einem ja keiner."
Okan hat erlebt, was es bedeuten kann, keinen deutschen Pass zu besitzen. "Als meine Sachbearbeiterin damals im Jobcenter gemerkt hat, dass ich kein deutscher Staatsbürger bin, hat sie auf einmal ganz anders mit mir gesprochen, wie mit einem Kleinkind. Die hat mich nicht mehr ernst genommen. Ich kam mir vor wie ein Affe." Man sieht ihm die Wut an, mit der er auf die Politik zu sprechen kommt. "Wir werden einfach vergessen, wir sind denen doch scheißegal. Einmal im Jahr Halli-Galli auf dem ,MyFest' und dann war's das." Ferhat und sein Sitznachbar Ermann nicken. "Ja", zischt Ermann, der bisher nur zugehört hat, "jeder von uns wird das sagen, egal wen man fragt."
Die Chancen Jugendlicher mit Migrationshintergrund stagnieren seit Jahren: Durchschnittlich drei Monate dauert es, bis die Hälfte aller deutschstämmigen Schulabgänger einen Ausbildungsplatz gefunden hat - Schulabgänger mit Migrationshintergrund brauchen dafür durchschnittlich mindestens 17 Monate.
"Manchmal habe ich das Gefühl, man will uns hier nicht", sagt Ferhat, "sonst würde man uns anders behandeln." Zusammen mit Okan büffelt er jetzt Hundesteuersätze, Kriegsdienstverweigerung, Landeshauptstädte und den politischen Prozess - die beiden wollen sich einbürgern lassen. Sie hoffen, mit deutschem Pass "besser dran" zu sein.
Ein Lied von ungleichen Chancen singen kann auch Martin Kesting, Leiter der Naunynritze. Der schlanke, hochgewachsene Mittvierziger sitzt in seinem kleinen Büro neben dem Treppenaufgang. Mit seinem schwarzen Rollkragenpullover und den beiden Ringen im linken Ohr wirkt er wie einer, der einen Draht zu jungen Menschen hat. Die dünne Hornbrille tanzt ihm beim Sprechen auf der Nase. "Bildung ist heute ein wichtigeres Thema als noch vor 15 Jahren", sagt er. Da sei es umso schlimmer, wie sträflich die Bildung vernachlässigt werde.
"An Problemschulen sollen die Lehrkräfte Wissensvermittler und Sozialarbeiter gleichzeitig spielen - die Rechnung kann nicht aufgeben." Dazu kommt, dass die 6 Prozent der Jugendlichen, die in ihrer Freizeit noch regelmäßig Jugendzentren besuchen, sich oft gegenseitig "die Butter vom Brot nehmen", wie Kesting es formuliert. Kleine Zentren werden häufig von einer Gruppe annektiert, Mitglieder anderer Gruppen werden am Besuch gehindert. "So etwas passiert schnell", sagt der Leiter des Zentrums und schlägt die Beine übereinander, "dass ein Laden dann zum Beispiel türkischen Jungs ,gehört'. Für Kurden ist das Ding dann tabu."
Kesting ist einer Idealisten, die den Spagat zwischen knappem Budget und ordentlichem Freizeitangebot meistern. Die Naunynritze kann sich mit der Basisfinanzierung gerade über Wasser halten, für große Sprünge reicht es nicht. Um die bestehenden Angebote wie Tanz-, Theater- und Medienprojekte zu sichern, steht die Fusion mit einem privaten Träger bevor. "An der Struktur unserer Arbeit ändert das nichts", betont der 46-Jährige, "nur unser Sportangebot werden wir erweitern." Etwas wehmütig wirkt er dabei doch. Als eines der ältesten Jugendzentren der Stadt wird mit der ehemaligen preußischen Schule ein Stückchen Geschichte privatisiert. "Aber das ist wohl ein allgemeiner Trend, der nicht nur Jugendeinrichtungen betrifft."
Okan und Ferhat wissen von den Finanznöten der Naunynritze, ihres Jugendzentrums. Für sie ist das ein klares Zeichen. "Würde man sich für uns interessieren, sich mit uns beschäftigen wollen - so wie sie immer in den Nachrichten sagen - dann hätten wir die Probleme nicht", sagt Okan und knallt seine Basecap auf den Tisch. Ermann nickt. "Für uns ist das ein gestreckter Mittelfinger", faucht Ferhat, "und ich weiß nicht, ob die da oben wissen, wie manche bei uns im Kiez auf einen gestreckten Mittelfinger reagieren."