berufsfindung
Über die Irrfahrt einer 17-Jährigen. Erfahrungen einer Tante
In der Haut meiner Nichte Anne möchte ich momentan auf keinen Fall stecken. Anne ist 17, geht in die 12. Klasse eines Gymnasiums, geradewegs aufs Abitur zu, und steht nun vor der alles entscheidenden Frage: Was soll bloß aus mir werden?
Genau wie die meisten ihrer Mitschüler hat Anne noch keine Ahnung, was sie nach der Schule eigentlich machen soll. Damit gehört sie zu den 42 Prozent, die laut der aktuellen Shell-Jugendstudie mit eher gemischten Gefühlen in ihre berufliche Zukunft blicken und damit nicht so recht wissen, was nach der Schule auf sie zukommt. Nur eins weiß sie schon ganz sicher: Sie will später mal etwas verdammt Cooles machen und ganz groß rauskommen. Was genau das sein soll? Keine Ahnung.
Allerdings stellt Anne jetzt schon einige Anforderungen an ihren künftigen Arbeitgeber. Erstens: gearbeitet wird nur von Montag bis Freitag. Zweitens: es wird nie nach 18 Uhr gearbeitet. Und drittens: es wird nie vor 10 Uhr angefangen. Woher Annes Vorstellungen vom Arbeitsalltag kommen? Auch das weiß sie nicht so genau. Vielleicht liegt es ja an ihrer Lieblingsserie "Gute Zeiten, schlechte Zeiten". Die machen alle irgendwie etwas Cooles - leiten ein Hostel, arbeiten beim "Morgenecho", werden Bezirksbürgermeister und bekommen als Polizei-azubis ständig vorzeitig Feierabend.
Bevor es soweit kommt, muss Anne sich bewerben. Ein Studium schließt sie von vornherein aus - sie hat ja keine Ahnung, was sie überhaupt studieren sollte und vor allem wozu. 2007 haben sich insgesamt 361.459 junge Menschen für ein Studium entschieden, doppelt so viele für eine Ausbildung. Also meint Anne, dass sie mit einer Ausbildung alles richtig macht. Dass sie dabei völlig planlos vorgeht, merkt sie nicht. Ihr Vater, mein Bruder, hat ihr den Tipp gegeben, sie solle sich als Sozialversicherungsfachangestellte bei einer Krankenkasse bewerben. Die Begründung: Die arbeiten garantiert nie nach 18 Uhr.
Den nicht ganz ernst gemeinten Rat hat Anne durchaus Ernst genommen und gleich bei mehreren Krankenkassen ihre Bewerbungsunterlagen eingereicht - und nur Absagen kassiert. Eigentlich sei sie ganz froh, dass das nicht geklappt habe, sagt sie, - Sozialversicherungsfachangestellte und cool schließen sich irgendwie aus.
Anne liebt Ikea. Mindestens einmal pro Monat schlendert sie durch die Verkaufshallen des Möbelriesen. Genauso wie sie weiß, dass sie mal was Cooles machen will, weiß sie auch, dass ihre erste eigene Wohnung von oben bis unten im Ikea-Design ausgestattet wird. Wenn man Ikea liebt, kann man auch für Ikea arbeiten, hat sich Anne gedacht. Also hat sie sich als Gestalterin für visuelles Marketing beworben, damit sie später ein Leben lang in einer überdimensionierten Ikea-Wohnstube Möbel hin- und herschieben kann.
Weil sich aber doch so einige um einen Job bei Ikea reißen, muss Anne sich noch ein wenig gedulden - sie ist jetzt erstmal in den Bewerberpool aufgenommen. Hoffentlich gehen ihre Unterlagen nicht unter: Auf die circa 600 Stellen in den deutschen Dependancen des schwedischen Möbelriesen bewerben sich immerhin 20.000 Schüler um einen Ausbildungsplatz. Doch für ihren Traumjob bei Ikea würde Anne sogar einige Kompromisse eingehen, schließlich hat das Möbelhaus auch nach 20 Uhr und auch am Wochenende geöffnet. Dafür könnte man dann aber erzählen, "die Einrichtungsidee kam von mir!" Außerdem klingt Gestalterin für visuelles Marketing bei Ikea schon deutlich cooler als Sozialversicherungsfachangestellte bei einer Krankenkasse.
Auch wenn die Chancen, später bei Ikea die Karriereleiter hinaufzuklettern laut der firmeneigenen Ausbildungshomepage nicht so schlecht stehen, gibt es da für Anne noch ein entscheidendes Problem: Sie müsste dafür sehr wahrscheinlich ihren Heimatort verlassen! Das geht natürlich auf gar keinen Fall, schließlich wohnt ihr Freund in der gleichen Stadt und macht eine Ausbildung zum Drucker. Von Wochenendbeziehungen hält Anne nicht viel, die gehen dann kaputt - davon ist sie felsenfest überzeugt. Einen Kompromiss würde Anne schon eingehen - zumindest landesweit will sie sich nach Lehrstellen umschauen.
Doch irgendwie ist das alles nichts Halbes und nichts Ganzes - das weiß Anne selbst. Nur zugeben will sie es nicht. "Und was machen deine Mitschüler nach dem Abi?" Schulterzucken. "Auf was hast du genau Lust?" Schulterzucken.
Wenn ich noch einmal 18 wäre, würde ich für ein Jahr ins Ausland gehen, entweder als freiwilliges Jahr oder als Au Pair. Dass ich das nie gemacht habe, bereue ich bis heute. Mein Schulenglisch ist so schlecht, dass man das wirklich keinem anbieten kann. Ich bin überzeugt, wäre ich ein Jahr zum Beispiel in den USA gewesen, hätte ich dieses Problem nicht mehr. Anne wägt kurz ab. Finanziell könnte die Familie ihr diesen Traum erfüllen - anders als bei mir damals. Aber da ist ja noch der Freund, den sie verlassen müsste. Also wieder Schulterzucken.
Wenn ich noch einmal 18 wäre, hätte ich mich doch für ein Studium entschieden. Die Biologie des Menschen hat mich schon immer interessiert. Anne übrigens auch, sie ist sogar im Bio-Leistungskurs. Für ein direktes Medizinstudium hätte es bei meinem Notendurchschnitt nicht ganz gereicht, genauso wie bei Anne jetzt auch. Also hätte ich erstmal eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. Eine Freundin von mir ist so über diesen Umweg doch noch Psychologin geworden. Die hat jetzt eine Praxis für sich allein, ist glücklich und hat garantiert ein höheres Monatseinkommen als ich als Journalistin.
Eine Ärztin in der Familie zu haben, das wäre schon etwas Cooles. Außerdem liest man ja ständig vom Ärztemangel in Deutschland - da dürfte sich die Lernquälerei durchs Studium aber wohl ganz bestimmt lohnen. "Ärztin klingt schon nicht schlecht", stimmt Anne mir zu. "Aber als Krankenschwester muss man doch nur den ganzen Tag putzen, dafür bin ich doch nicht zwölf Jahre in die Schule gegangen." Nach dieser Aussage bleibt auch mir als Tante nur noch eins: Schulternzucken.
Die Autorin ist Chefredakteurin der Musik-Zeitschrift "Melodie und Rhythmus". Sie ist 26 Jahre alt.