REFERENDUM
Bolivien hat eine neue Verfassung. Doch die Gegner von Evo Morales wollen sie blockieren
Es war kurz nach Mitternacht, als Staatspräsident Evo Morales, gekleidet in seine traditionelle Chamarra-Jacke, auf den Balkon des Präsidentenpalastes trat. "Ein neues Bolivien wird entstehen", rief das erste Staatsoberhaupt indianischer Herkunft unter dem Jubel von tausenden Anhängern. "Lassen wir das koloniale Erbe hinter uns." In den Händen hielt Morales an diesem Morgen des 26. Januar ein kleines Buch in den Nationalfarben Rot, Gelb, Grün - die neue Verfassung des Andenstaates. Rund 59 Prozent der Bolivianer hatten nach dem vorläufigen Auszählungsergebnis zuvor für sie gestimmt. Mit Nein votierten rund 40 Prozent. Die Anhänger der linksgerichteten Regierung feierten bis in den Morgen auf den Straßen von La Paz. Doch auch wenn Morales gestärkt aus der Abstimmung hervorgeht, steht Bolivien nach Meinung von Experten vor einer neuen Zerreißprobe.
Schon rund sechshundert Kilometer weiter westlich ist von Volksfeststimmung nichts zu spüren. Die Provinz Santa Cruz ist das Zentrum des Widerstandes gegen die neue Konstitution, die der indianischen Bevölkerung mehr Rechte einräumt. Hier und auch in den anderen drei um ihre Autonomie kämpfenden rohstoffreichen Tieflandprovinzen Tarija, Beni und Pando wurde die Verfassung mit Zweidrittelmehrheit abgelehnt. Der Gouverneur von Santa Cruz, Rubén Costas, kündigte an, die Opposition werde deshalb deren Umsetzung mit aller Macht blockieren. "Wir werden dafür kämpfen, dass sich in Bolivien nichts ändert", warnt er. Er wirft Morales vor, eine "sozialistische Diktatur nach dem Vorbild von Venezuela" errichten zu wollen. Hinter ihm stehen empörte Wähler, die vor laufenden Kameras die neue Verfassung verbrennen.
Auf den größten Widerstand stößt die geplante Umverteilung der Rohstoffgewinne zugunsten der armen mehrheitlich von Indios bewohnten Provinzen im Hochland. Die weißen Großgrundbesitzer befürchten die Enteignung ihrer Ländereien. Mit der Verfassung hatten die Bürger gleichzeitig für eine Agrarreform und eine Beschränkung des privaten Landbesitzes auf höchstens 5.000 Hektar gestimmt. Auch die umstrittene Wiederwahl von Morales wird künftig möglich sein. Bislang konnte das bolivianische Staatsoberhaupt nur einmalig für fünf Jahre gewählt werden. Der ehemalige Kokabauer und Gewerkschafter hat schon angekündigt, für die nächste Präsidentschaftswahl im Dezember zu kandidieren. "Die Verfassung könnte die Spaltung des Landes noch vertiefen", meint Claudio Couto, Politologe an der Katholischen Universität in São Paulo. "Aber sie bietet auch die Chance auf Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition." Kritisch sieht Couto das staatliche Eingreifen in die Wirtschaft. "Das darf eine Verfassung nicht regeln", sagt er. "Das muss politisch verhandelt werden."
Bolivien ist ein tief gespaltenes Land - wirtschaftlich, sozial und kulturell. Zwei Jahre dauerten die teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen, bis über den neue Verfassungstext endlich abgestimmt werden konnte. Im September starben 18 Menschen bei einer Kundgebung für Morales. "Wichtig ist, dass Veränderungsmöglichkeiten eröffnet werden", sagt der Lateinamerika-Experte in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Jonas Wolff. "Jetzt kommt es auf die Umsetzung an." Denn: Papier ist geduldig, besonders in Lateinamerika. Um die neue Verfassung realisieren zu können, müssen über 100 Gesetze geändert werden. Für einige Vorhaben braucht Morales eine Zweidrittelmehrheit. Im Abgeordnetenhaus kann die Regierung zwar die Mehrheit der 130 Parlamentarier hinter sich vereinen. Im Senat mit seinen 27 Sitzen herrscht jedoch die Opposition. Rechtlich schwierig war die Situation, als im Oktober der Verfassungsentwurf im Parlament beschlossen wurde, aber Oppositionsabgeordnete der Abstimmung fern blieben. "Doch jetzt gibt es keinen Zweifel mehr, dass es eine legitime Verfassung ist", sagt Wolff.
Mit der neuen Magna Charta soll nach dem Willen der Regierung Bolivien in einen modernen Vielvölkerstaat umgewandelt werden, in dem 36 Ethnien gleichberechtigt miteinander leben. Der Katholizismus als Staatsreligion wird abgeschafft und die Verstaatlichung aller Bodenschätze fortgesetzt. Rund 80 der 411 Artikel garantieren der indianischen Bevölkerung mehr Rechte. So soll in Gemeinden mit indianischer Mehrheit eine parallele eigene Gerichtsbarkeit aufgebaut werden. Diese Urteile können nicht durch öffentliche Gerichte aufgehoben werden. Unter einigen Experten sorgt dieser Passus für erhebliche Kritik. Wolff verweist dagegen darauf, dass es in der Praxis bereits solche indianischen Gerichte gibt. "Jetzt wurde nur der rechtliche Rahmen dafür geschaffen." Unter Experten ist besonders eine Formulierung umstritten, die den Kokaanbau als "kulturelles Erbe" unter einen besonderen Schutz stellt. Sie werfen Morales eine halbherzige Anti-Drogen-Politik vor.