kompetenzen
Deutschland ist ein Bundesstaat in der EU. Das muss er auch bleiben
Wie viele deutsche Gesetze stammen denn nun aus Brüssel? 80 Prozent? Diese Zahl wird oft genannt und dann wieder abgeschrieben. Andere sprechen von weniger als 10 Prozent. Doch selbst wenn es 80 Prozent wären - heißt das, dass Deutschland kein eigenständiger Staat mehr ist? Um diese Fragen geht es in dem Streit um den Vertrag von Lissabon, der mittlerweile auch vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe geführt wird.
Wie schon vor mehr als 15 Jahren, als mit dem Vertrag von Maastricht die Europäische Union gegründet wurde, fürchten Kritiker den Verlust deutscher Eigenständigkeit. Doch an Zahlen oder einzelnen Regelungen kann man kaum festmachen, ob wir von Berlin oder von Brüssel aus bestimmt werden. Denn Deutschland hat sich seinerzeit bewusst der Europäischen Gemeinschaft angeschlossen und die Integration immer weiter vorangetrieben. Schon in der Präambel des Grundgesetzes von 1949 heißt es: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben."
Mittlerweile ist eine Entwicklung eingetreten, die manche fragen lässt, wer denn eigentlich der Souverän ist. Alle betonen, niemand wolle derzeit einen europäischen Bundesstaat, und die Mitgliedstaaten blieben weiterhin die "Herren" der europäischen Verträge. Aber ist das wirklich so? "Es geht um die Wurst" - dieser Satz des Bundesverfassungsrichters Herbert Landau sagt alles über die Bedeutung des Verfahrens zum Vertrag von Lissabon. Er bezog sich vor allem auf eine Metapher, die in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht Mitte Februar dieses Jahres arg strapaziert wurde. Wie viele Kompetenzen darf man noch abschneiden?
Freilich: Die Kompetenzen sind zunächst einmal freiwillig weggegeben worden. Von den Mitgliedstaaten der EU, gerade in Ausübung ihrer staatlichen Souveränität. Insbesondere die mit dem Vertrag von Maastricht einhergehende Schaffung einer europäischen Währungsunion hat eine klassische Befugnis des Nationalstaats aufgegeben. Nicht zuletzt deshalb war schon damals befürchtet worden, mit der Abschaffung der D-Mark werde auch Deutschlands Staatlichkeit aufgelöst wie ein Stück Zucker im Kaffee. Das Scheitern des EU-Verfassungsvertrages war auch auf diese Ängste zurückzuführen, auch wenn natürlich in den Völkern zahlreiche andere, auch innenpolitische Gründe eine Rolle spielten.
Aber das Wort Verfassung ist eben stark mit dem Staat verbunden; in Deutschland ohnehin. Dabei hat die Europäische Union längst eine Verfassung - die europäischen Verträge sind im Grunde genommen nichts anderes. Gleichwohl: Die nationalstaatliche Symbolik wurde entfernt - doch im Kern fanden die Regelungen des Verfassungsvertrages Eingang in den Vertrag von Lissabon. Dazu gehört etwa die Vergemeinschaftung der Dritten Säule, mit der Folge, dass über Innen- und Justizthemen in der EU mit Mehrheit, also auch gegen Deutschlands Stimme Entscheidungen getroffen werden können. Ferner gibt es Klauseln, bei denen die Gefahr besteht, dass die Europäische Union sich selbst Kompetenzen schafft - darin sind die europäischen Organe ohnehin immer großzügig gewesen. Es liegt gleichsam in der Natur jedes Zentralorgans einer föderalen Ordnung.
Das gilt auch für die Rechtsprechung des viel gescholtenen Europäischen Gerichtshofs. Zwar ist das im Karlsruher Maastricht-Urteil beschworene "Kooperationsverhältnis" mit dem Bundesverfassungsgericht längst Wirklichkeit. Noch nie hat das Verfassungsgericht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, einem europäischen Rechtsakt auf deutschem Gebiet die rechtliche Anerkennung zu versagen.
Doch gibt es eine Kluft zwischen beiden Rechtsprechungsorganen. Genauso ungehalten, wie sich deutsche Verfassungsrichter zu zweifelhaften Kompetenzübertragungen äußern, machen sich ihre Luxemburger Kollegen über das deutsche Kompetenzdenken und die Karlsruher Allmacht ihre Gedanken. Dass über europäisches Recht nur in Europa entschieden werden kann - und dass auch die Luxemburger Richter sich dem Ziel des Binnenmarktes verpflichtet sehen -, ist Teil des europäischen Selbstverständnisses.
Wie wäre es denn, so fragt sich mancher auch mit Blick auf den Ausgang des Karlsruher Lissabon-Verfahrens, wenn sich jedes nationale Verfassungsgericht in der EU von Fall zu Fall überlegte, ob nicht bestimmte Brüsseler und Luxemburger Entscheidungen gegen die Fundamente der eigenen Souveränität verstießen? Das wäre wohl ein Sprengsatz für die Europäische Union. Der Europäische Gerichtshof wird sich jedenfalls weiterhin als der integrationsfreundliche Wächter der europäischen Verträge ansehen; das ist schließlich grundsätzlich die ihm von den Mitgliedstaaten zugewiesene Rolle. Für die Auslegung von Europarecht ist letztlich er zuständig - für die Auslegung des Grundgesetzes freilich die Karlsruher Richter, die bisher auch keinen Grund sahen, einen Fall im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens ihren Luxemburger Kollegen vorzulegen. Daran sind die deutschen Parlamentarier nicht unschuldig. Noch im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zum europäischen Haftbefehl war deutlich geworden, dass sich die Bundestagsabgeordneten eher als ausführendes Organ denn als selbstbestimmte Volksvertretung sehen: Rahmenbeschlüsse und Richtlinien, die den nationalen Parlamenten durchaus Spielraum lassen, galten ihnen als Befehl, der "eins zu eins" auszuführen sei.
Das hat sich gebessert. Zwar ist schon in der Grundgesetzänderung, die mit dem Maastricht-Vertrag vorgenommen wurde, eine Mitwirkung des Parlaments angelegt. Aber noch wurden die Verfahren verfeinert und wirksamer gemacht - und vor allem: Die Abgeordneten sind sensibilisiert. So sagte der rechtspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Jerzy Montag, in Karlsruhe, ein von den Klägern bemühtes Bild aufgreifend, mit dem Vertrag von Lissabon mache man einen Schritt weg vom Abgrund. Doch Montags Bemühungen, den Einfluss der Abgeordneten etwa gegen eine ausufernde Strafrechtskompetenz der EU hervorzuheben, konnten die Verfassungsrichter spontan nicht recht überzeugen: Zwar möge die Union künftig nur die Befugnis zur Regelung grenzüberschreitenden (Straf-)Rechts haben, doch wie sei das etwa mit "Sterbehilfe als Dienstleistungsfreiheit"? Jedenfalls lässt sich ein länderübergreifender Zusammenhang immer leicht herstellen.
Es bleibt die Frage, ob die überkommenen, nationalen Begriffe überhaupt auf den europäischen Staatenverbund passen. Das gilt etwa für das Demokratieprinzip. Die Stimme eines Deutschen ist in Europa deutlich weniger wert als die eines Luxemburgers.
Richtig bleibt, dass grundlegende demokratische Anforderungen mit dem Fortschreiten der Integration nicht obsolet geworden sind. Im Gegenteil: Zur Verwirklichung eines vereinten Europas, so heißt es im Grundgesetz, "wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet."
Daran kommt niemand vorbei. Wer anderes will, etwa einen europäischen Bundesstaat, in dem Deutschland nur noch ein Gliedstaat wäre, der kommt um eine Entscheidung des Souveräns nicht herum. Das heißt: Dafür wäre eine Volksabstimmung unumgänglich.
Das Bundesverfassungsgericht wird sich nicht in erster Linie von dem Argument der Bundesregierung leiten lassen, eine Ablehnung des Vertrages von Lissabon wäre "politisch wahnsinnig". Es wird aber sicherstellen (müssen), dass Deutschland unter dem Grundgesetz ein demokratischer Bundesstaat in der EU bleibt. Karlsruhe wird zudem weiterhin sicherstellen wollen, dass es eine Letztkontrolle behält.
Zwar wird Souveränität heute gern als ein überholter Begriff angesehen, der allenfalls noch in der Form einer Zusammenarbeit der Staaten eine Rolle spielt. Doch dass souveräne Staatlichkeit auch mit uns selbstverständlichen Grundwerten zusammenhängt, dass der unmittelbar legitimierte demokratische Gesetzgeber das entscheidende Wort sprechen muss, das lernt mancher gerade in dem von allen grundsätzlich begrüßten immer weiter fortschreitenden europäischen Integrationsprozess.
Spätestens dann, wenn eigene Grundrechte betroffen sind, wenn man etwa aufgrund eines rumänischen Haftbefehls ohne weitere Prüfung dorthin ausgeliefert wird, stellt mancher die Frage, wohin die Reise geht. Diese Frage muss ständig beantwortet werden, vor allem im Deutschen Bundestag, und nicht nur in Zeiten des Europawahlkampfs.
Der Autor ist Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".