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Werte des Grundgesetzes dürfen nicht vergessen werden. Ein Appell
Sechzig Jahre nach seiner Entstehung gehört das Grundgesetz offenbar zum alten Eisen der deutschen Verfassungsgeschichte. Die Festreden, die Lobeshymnen, die Gruß- und Dankesworte, die in diesen Wochen und Monaten ihm zu Ehren gehalten, gesungen und gesprochen werden, mögen die anhaltende Aktualität der Verfassung beteuern - die Praxis der Gesetzgeber im Bund und in den Ländern belegt das Gegenteil.
Die Überzeugung, in Zeiten des Anti-Terror-Kriegs und der internationalen Kriminalitätsbekämpfung sei das Grundgesetz ein Anachronismus, gehört zum ideologischen Handgepäck nicht allein konservativer Rechts- und Innenpolitiker. Eine Verfassung ist nur so stark wie der Glaube der Bürger an die Grundsätze, die sie formuliert. Wie aber soll der Glaube der Bürger Kraft entwickeln, wenn die Politik unentwegt vor der Schwäche der Verfassung warnt und ihr ständig bescheinigt, den Herausforderungen der Gegenwart nicht mehr gewachsen zu sein?
Die mutwillige "Geriatrisierung" des Grundgesetzes im Zuge der Anti-Terror-Politik hat vor Jahren begonnen; niemand hat sie prägnanter formuliert als der derzeitige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU). Zur Begründung, weshalb das Grundgesetz der neuen Sicherheitslage und "veränderten gesellschaftlichen Bedingungen" anzupassen sei, beteuerte er im Juli 2007: "Wir leben nicht mehr in der Welt des Jahres 1949."
Das war als Hinweis auf ein vermeintliches Nachkriegsidyll zu verstehen, das im Grundgesetz seinen romantischen Ausdruck fand. Das ist historisch absurd, politisch ist es Demagogie: Selbst ein verheerender Selbstmordanschlag islamistischer Terroristen wäre kaum annähernd mit den Schrecken zu vergleichen, die in den Jahren vor und nach 1949 zu ertragen oder zu befürchten waren. Tatsächlich haben sich neben den gesellschaftlichen auch die politischen Bedingungen gravierend verändert.
Nie haben die Deutschen so sicher gelebt, nie waren die Verhältnisse weiter von einem Ausnahmezustand entfernt. Die Gefahren haben abgenommen, aber dramatisch zugenommen hat die Bereitschaft des Gesetzgebers, zur Vermeidung der Gefahren die Freiheitsrechte der Bürger immer weiter zu beschneiden und das Grundgesetz als nicht mehr zeitgemäß abzutun, als verstaubtes Requisit im Fundus der deutschen Geschichte. Zur Disposition stehen nicht einzelne Grundrechte, betroffen ist das Fundament - das Menschenbild des Grundgesetzes.
Als das Grundgesetz geschrieben wurde, stand der Dritte Weltkrieg Pate. Nicht der Druck der westlichen Siegermächte, schon gar nicht die Euphorie beseelter Verfassungspatrioten befeuerte die Arbeit des Parlamentarischen Rates in Bonn. Was ihn antrieb, was ihm während der Beratungen über das Grundgesetz vom 1. September 1948 bis zum 23. Mai 1949 ununterbrochen im Nacken saß, war die Angst, der heraufziehende Kalte Krieg werde schon bald mit Panzern und Bomben geführt und das Trümmerfeld, das Deutschland war, würde abermals in ein Schlachtfeld verwandelt und danach von der politischen Weltkarte verschwinden.
Als die 65 Mütter und Väter des Grundgesetzes zusammenkamen, versorgten seit Monaten amerikanische und britische Bomber das von der sowjetischen Besatzungsmacht blockierte West-Berlin, von dem kaum ein Deutscher glaubte - und für das nicht einmal die meisten Politiker der westlichen Alliierten wünschten -, dass es seine Freiheit bewahren könne.
Was damals nicht beachtet wurden und heute fast wieder vergessen ist: 1948/49 hat sich in Bonn eine Revolution ereignet. Die fehlende Aufmerksamkeit, die sie bis heute im Bewusstsein der Deutschen findet, haben sich die Revolutionäre, die Mitglieder des Parlamentarischen Rates, selber zuzuschreiben. Sie errichteten keine Barrikaden, sondern diskutierten friedlich in ehemaligen Klassenzimmern; sie dachten an keinen Umsturz, sondern an einen provisorischen Neuaufbau. Die Bezeichnung als Revolutionäre hätten sie kopfschüttelnd zurückgewiesen. Und doch haben sie damals in 265 Tagen nicht nur das Fundament für die Bundesrepublik gelegt, sondern die Verhältnisse zum Tanzen gebracht.
Von der deutschen Öffentlichkeit unbemerkt, haben die Parlamentarischen Räte damals den Obrigkeitsstaat im Grundgesetz beseitigt, überhaupt den Staat zur Abdankung gezwungen, soweit er der Wertordnung des Grundgesetzes im Wege steht. Sie haben nicht nur den "Obrigkeitsstaat" im Lehrplan der Nation gestrichen und Staat wie Gesellschaft auf die höhere Schule der Demokratie geschickt. Zugleich haben sie die Legitimation des Staates an eine sittliche Idee gebunden.
Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee hatte an den Anfang seines Grundgesetz-Entwurfs den Satz gestellt: "Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen." Die Eltern des Grundgesetzes in Bonn haben es anders formuliert. Die Würde der Bundesrepublik, ihr Selbstverständnis, liegt, so hat es der Parlamentarische Rat bestimmt, in einem Satz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Das war die unerhörte Botschaft von Bonn, die Parole der friedlichsten und erfolgreichsten Revolution, die Deutschland je erlebt hat.
60 Jahre später scheint es, als ob die "kopernikanische Wende" von 1948/49 ihre entschiedensten Verteidiger im Bundesverfassungsgericht findet, jedenfalls nicht mehr in den Parlamenten. Ob die Terror-Bekämpfungsgesetze die Sicherheit tatsächlich erhöhen, ist eine offene Frage, dass sie die Menschenwürdegarantie immer wieder und immer öfter verletzen, ist hingegen belegt. Der sogenannte Große Lauschangriff, die bundesweit koordinierte Rasterfahndung ohne konkrete Gefahr, die Online-Durchsuchung im nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetz , die schleswig-holsteinischen und hessischen Regelungen zur automatisierten Erfassung von Kfz-Kennzeichen, das Luftsicherheitsgesetz, das dem Staat den Abschuss eines von Terroristen entführten, möglicherweise zur Waffe eines Selbstmordattentats umfunktionierten Zivilflugzeugs erlaubte - alle diese Gesetze wurden in den vergangenen Jahren vom Bundesverfassungsgericht unter anderem wegen Verletzung der Menschenwürdegarantie ganz oder teilweise für nichtig erklärt.
In der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz hieß es, nicht nur die Terroristen machten ihre Opfer zu Objekten, " auch der Staat [...] behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion".
Weiter als mit diesem Gesetz kann sich der Gesetzgeber nicht vom Menschenbild des Grundgesetzes entfernen. "Wir leben nicht mehr in der Welt des Jahres 1949." Innenminister Schäuble hat mit dieser Bemerkung auf erschütternde Weise recht behalten.
Der Autor ist leitender Redakteur der "Berliner Zeitung".