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Der Bundestag hat in Europa mehr zu melden, als allgemein unterstellt wird - das ist nur nicht immer so offensichtlich
Europa, die phönizische Königstochter, soll von Zeus nach Kreta entführt und dort verführt worden sein. Vielleicht hat der Entstehungsmythos des Kontinents auf die Europäische Union abgefärbt - jedenfalls werden auch über das moderne Europa zahlreiche Mythen erzählt. Zum Beispiel, dass Berlin sich etwa beim EU-Haftbefehl oder beim Feinstaub von Brüssel habe überrollen lassen. Oder dass der Bundestag entmachtet wird, wenn der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt. Schließlich der Mythos, dass das deutsche Parlament ohnehin nichts mehr zu entscheiden habe, weil vier Fünftel der Gesetze in Brüssel geschrieben würden.
Kurzum, es scheint, als ob der Bundestag in Brüssel wenig zu melden habe. Dabei gibt es seit fast 15 Jahren einen Europa-Ausschuss, der Brüsseler Gesetzesvorhaben verfolgt, und ein eigenes Verbindungsbüro des Bundestages in Brüssel. Außerdem schickt Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso seit 2006 Gesetzentwürfe und sonstige Dokumente nicht mehr nur an die Bundesregierung, sondern auch an den Bundestag - mit der Bitte um Stellungnahme. Doch die Berliner Abgeordneten regen sich statistisch selten: Nach einer internen Kommissionsstatistik für die Zeit von Herbst 2006 bis 2007 meldete sich der Bundestag gerade dreimal, der Bundesrat dagegen 16 mal. Der schwedische Reichstag gab 13 mal, der dänische Folketing zwölf Mal seine Meinung zu Protokoll. Dürfen Deutschlands Abgeordnete nicht aufmucken? Oder wollen sie nicht? Oder müssen sie vielleicht gar nicht?
Zunächst zu den Mythen: Im Fall des europäischen Haftbefehls, dessen deutsche Umsetzung die Karlsruher Richter im Sommer 2005 zunächst für verfassungswidrig erklärten, hatte der Bundestag nicht ausreichend geprüft, welche großen Spielräume der Brüsseler Beschluss, der die Verhaftung ausländischer Straftäter vereinfachen soll, eigentlich erlaubt. Die Abgeordneten hatten den europäischen Rahmenbeschluss einfach eins zu eins in deutsches Recht übersetzt. Auch die Feinstaub-Richtlinie verpasste der Bundestag. Erst als klar wurde, dass die strengen Grenzwerte Fahrverbote bedeuten könnten, begann das Wehklagen.
Der EU-Reformvertrag, zweiter Mythos, will genau das Gegenteil dessen, was seine Kritiker behaupten: nämlich den nationalen Parlamenten mehr Mitsprache einräumen. Und die Zahlen, die dem dritten Mythos zugrunde liegen, sind kaum vertrauenswürdig und hoch umstritten: Während die einen glauben, belegen zu können, kaum zehn Prozent der Gesetz kämen aus Brüssel, sind sich andere sicher, dass es nahezu 80 Prozent sind (dazu der Text auf Seite 10).
Richtig ist: Anders als anderen europäischen Parlamenten fehlt es dem Bundestag an scharfen Waffen, um die Regierung auf Verhandlungsziele festzunageln oder Gesetzesvorhaben zu stoppen.
Allerdings haben Regierung und Parlament 2006 eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit mit dem Kürzel BBV geschlossen, wonach die Abgeordneten frühzeitig in EU-Entscheidungen einbezogen werden müssen. "Das Karlsruher Urteil zum EU-Haftbefehl war so etwas wie ein heilsamer Schock", sagt der CDU-Abgeordnete Gunther Krichbaum, der dem Europa-Ausschuss im Bundestag vorsitzt. Es habe deutlich gemacht, dass die Strukturen verbessert werden müssen. Die BBV regelt, dass die Regierung den Abgeordneten "frühzeitig und fortlaufend" alle Vorlagen und Berichte aus Brüssel zuleitet. "Das funktioniert zu 80 Prozent sehr gut", sagt Krichbaum, bei den restlichen 20 Prozent gebe es Raum für Verbesserungen. Außerdem schreibt die BBV vor, dass die Regierung sich vor Abstimmungen im Rat über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen oder die Änderung europäischer Verträge um "Einvernehmen" mit dem Bundestag bemühen muss.
In der Opposition wird die Arbeit des Europaausschusses nicht ganz so optimistisch beurteilt: Dieses Gremium ist als "Querschnittsausschuss" angelegt, was Alexander Graf Lambsdorff, FDP-Parlamentarier in Brüssel und als solcher Mitglied des Ausschusses, für eine "Fehlkonstruktion" hält. "Nicht, was Erweiterung, Haushalt oder institutionelle Fragen betrifft", korrigiert Lambsdorff schnell. Aber die Allzuständigkeit für europäische Fachpolitik führe dazu, dass die Fachausschüsse im Bundestag wichtige Weichenstellungen etwa beim Verbraucherschutz zu spät mitbekämen: "Sie fremdeln bei diesen Themen."
Andere Parlamente gehen offensiver an die Europathemen. Das britische Unterhaus etwa gilt mit seinem "Scrutiny"-Verfahren als vorbildlich. In einem engmaschigen Netz fangen Parlamentarier jene Brüsseler Gesetzesvorhaben ab, von denen sie glauben, sie könnten sich in ihrem Land negativ auswirken. Dazu trifft sich zweimal wöchentlich ein Ausschuss von Abgeordneten und Beamten, um Dokumente aus Brüssel zu begutachten. Was auffällt, wird an die Fachausschüsse weitergeleitet. Auch der EU-Ausschuss prüft Papiere. Überwiegen die Bedenken, kann das House of Commons eine "scrutiny reserve", einen Prüfungsvorbehalt einlegen. Bevor das Parlament nicht zugestimmt hat, darf kein Minister in Brüssel eine Vorlage abnicken.
Auch Niederländer und Dänen prüfen streng, was aus Brüssel kommt. Der Europaausschuss im dänischen Folketing hat in Europafragen sogar ein Vetorecht gegenüber der Regierung. Nun funktioniert die dänische Demokratie anders als die deutsche: Wegen der traditionellen Minderheitsregierungen sind der Premier und sein Team darauf angewiesen, Mehrheiten immer wieder auszuhandeln. Das House of Commons wiederum hat durch das Westminster-System und der daraus folgenden Symbiose von Regierung und Mehrheit im Parlament eher die Rolle eines Kontrolleurs.
Im Gegensatz dazu ist der Bundestag ein klassisches Arbeitsparlament. Regierung und parlamentarische Mehrheit kooperieren eng, die Arbeit wird an Arbeitskreise und Gruppen der Fraktionen delegiert, was das System eher intransparent macht. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bundesregierung - mit vielen an der Europapolitik beteiligten Referaten - ihre Aktivitäten im EU-Rat kaum publik macht, dass Europa unter Außenpolitik läuft, die im Kanzleramt und im Auswärtigen Amt doppelt besetzt ist und im Wirtschaftsministerium koordiniert wird. Und dass die Länder über den Bundesrat auch noch mitwirken
Doch machtlos ist der Bundestag keinesfalls: Krichbaum ist überzeugt, dass durch die inzwischen praktizierte Politik der Einbindung bereits im Vorfeld die möglichen Konflikte aus dem Weg geräumt würden. Die BBV sei ein Grund dafür, dass der Bundestag eben nicht direkt bei der Kommission intervenieren müsse, so Krichbaum.
Weiter ins Herz Europas wird sich der Bundestag mit dem Vertrag von Lissabon begeben. Dieser sieht vor, dass die nationalen Parlamente stärker am EU-Gesetzgebungsprozess beteiligt werden: Sie können rügen, wenn sie meinen, das Subsidiaritätsprinzip werde verletzt. Wenn mindestens ein Drittel aller Parlamente eine negative Stellungnahme abgibt, muss die Kommission ihren Vorschlag überprüfen. In Deutschland, darauf haben sich Koalition und Opposition geeinigt, muss die Klage eingereicht werden, wenn dies von einem Viertel der Abgeordneten verlangt wird.
Wenn also der EU-Reformvertrag in Kraft tritt, gilt die Ausrede, der Bundestag habe in Brüssel nichts zu melden, endgültig nicht mehr.
Die Autorin ist Leitende Redakteurin bei der "Süddeutschen Zeitung".