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Die Volksparteien scheinen dauerhaft nicht mehr als solche bestehen zu können. Muss man das beklagen?
Ewige Wahrheiten halten jetzt auch nicht mehr viel länger als der Naturjoghurt aus dem Bioladen. "In der Krise gehen die Menschen in die Kirche - und zu den Volksparteien." Das prophezeite SPD-Chef Franz Müntefering vor wenigen Wochen. In einer Welt, in der nichts mehr stimmt, in der die letzten Turbokapitalisten in China sitzen und die größten Bankenverstaatlicher in den USA, stimmt auch das Szenario Münteferings nicht. Die Krise wird derzeit immer schlimmer - und die Lage der Volksparteien nicht besser.
Der Großen Koalition wird allseits gutes Krisenmanagement attestiert, doch SPD und CDU können davon nicht profitieren. In den Umfragen dümpeln sie weiterhin auf niedrigem Vorkrisen-Niveau. Dass sich die kleinen Parteien, vorweg die FDP, als Krisengewinner fühlen dürfen, ist das jüngste Indiz für einen Prozess, der unaufhaltsam scheint: die Erosion der Volksparteien. Seit 1983 hat die CDU fast ein Drittel ihrer Mitglieder verloren, die SPD seit dem Beginn der 70er Jahre rund die Hälfte. Zwischen 1953 und 1983 erreichte die CDU/CSU bei Bundestagswahlen stets zwischen 44 und 50 Prozent - jetzt schrumpft sie zu einer 30 plus x-Partei. Der SPD droht gar eine dauerhafte Existenz als 20 plus x-Mittelmacht. Deutschland, so sieht es aus, nimmt Abschied von seinen Volksparteien.
Ist das schlimm? Muss man das beklagen? Ist das nicht eine Angleichung an das übrige Europa, wo vielerorts eine größere Zahl von kleineren und mittelgroßen Parteien miteinander koalieren? Das mag so sein. Beklagen muss man es trotzdem. Und womöglich ist es sogar schlimm.
Die Volksparteien waren in Deutschland über Jahrzehnte hinweg die Produzenten von Sozialkitt. In Großbritannien liefert diesen Kitt das (Selbst-)Bewusstsein, die älteste Demokratie der Welt zu sein. In den USA war es der Glaube an den "pursuit of happiness", das Streben nach Glück. Auf beides kann Deutschland nicht verweisen. Der soziale Kitt, anderswo frei Haus geliefert, muss erst erzeugt werden. In Volks- parteien.
In ihnen trifft der Arbeiter auf den Unternehmer, die Junge auf den Alten, die Hilfskraft auf den Intellektuellen. In ihnen wird Streit ausgetragen, Konsens hergestellt, Ausgleich gesucht. In ihren Versammlungen diskutiert das Volk mit sich, sie sind Orte, an denen sich der Zusammenhang der Gesellschaft (selbst-)organisiert.
Verschwinden die Volksparteien, schrumpfen also Union und SPD auf das Niveau einer aufgeblähten FDP, mag das politische System zwar pluraler werden. Dann mögen sich einzelne Wählerschichten vielleicht sogar in Parteien nach Maß passgenauer vertreten fühlen. Aber: Dann muss der politische Ausgleich über das Trennende hinweg, über die Frontstellungen der Parteien organisiert werden und nicht mehr über das Verbindende, nicht mehr über die gemeinsamen Grundwerte, die gemeinsame historische Tradition. Volksparteien sind in Deutschland Konsensmaschinen. Ihre Stabilität hat die Demokratie stabilisiert. Ohne Volksparteien würde sich die Individualisierung der Gesellschaft, die Atomisierung der Interessen beschleunigen, der soziale Kitt rascher bröckeln - die Demokratie käme in Stress.
Woran liegt es aber, dass den Volksparteien das Volk wegläuft, was ist der Grund für ihre Erosion?
Ihre beste Zeit hatten die Volksparteien in den späten 1960er, frühen 70er-Jahren, als ein gesellschaftlicher Umbruch sowohl der SPD als auch der Union Mitglieder zutrieb. Zu Tausenden strömten junge Akademiker in die alte SPD. Angelockt von einem charismatischen Willy Brandt, von großen Themen, der Ostpolitik, dem Vietnam-Krieg. Die "alte Tante" war plötzlich hip, Heimstatt der Jungen, der Künstler, der gesellschaftlichen Leitmilieus. Sie beheimatete die Avantgarde - und war selbst Avantgarde.
Die CDU wurde Zufluchtsort der gesellschaftlichen Gegenbewegung. Diese suchte weit weniger die Öffentlichkeit, agierte gänzlich unspektakulär, organisierte sich letztlich aber noch machtvoller als die Linke. 300.000 neue Sozialdemokraten verwandelten die SPD zwischen 1968 und 1976 in ein linkes Aufbruchprojekt - 370.000 neue Christdemokraten die CDU in eine konservative Trutzburg. Selbstverwirklichung versus Familie, Solidarität versus Leistung, Internationalität versus Nation. Die Bürger wählten damals mehr als Parteien - sie wählten Weltsichten.
Heute kürzt das linke Projekt das Arbeitslosengeld, verabschiedet die Agenda 2010, erhöht das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre. Heute versorgt die konservative Trutzburg das ganze Land mit Kita-Plätzen, baut Ganztagsschulen aus, kritisiert den Papst. Fördern und Fordern. Freiheit und Sozialismus. Links und Rechts. Die Bürger wählen heute nur noch Parteien, keine Weltsichten mehr. Die Emotionen schwinden. Und mit ihnen die Parteimitglieder und die Wähler.
Seit ihrer Hochzeit haben sich die Parteien verändert, die Gesellschaft aber noch mehr, noch schneller. Aus der Industrie- ist die Dienstleistungsgesellschaft geworden, aus der Dienstleistungs- die Wissensgesellschaft. Was damals national war, ist heute global: Das Kapital, der Markt - und immer mehr auch die Politik. Vor allem die SPD hat Probleme, mit dem Tempo dieser Veränderungen Schritt zu halten.
Bald 150 Jahre alt ist die deutsche Sozialdemokratie. Ihr Selbstverständnis, ihr Stolz, ihre Rhetorik wurzeln im Mythos der Arbeiterbewegung, in ihrer historischen Rolle als Ermöglicher sozialen Aufstiegs. Nur wird die Arbeiterpartei schon lange nicht mehr von Arbeitern repräsentiert. Heute gibt es prozentual dreimal mehr Arbeiter in der Gesellschaft als in der SPD. Nur noch etwas mehr als zehn Prozent ihrer Mitglieder sind Arbeiter, 80 Prozent ihrer Bundestagsabgeordneten sind Akademiker, Juristen, Volkswirte, Politologen, Ingenieure.
Die Kernklientel der SPD hat sich abgewendet. Im beschleunigten Kapitalismus, in der Globalisierung sehen viele Arbeiter Bedrohungen - in der SPD eine Partei, die sie nicht davor retten kann und nicht will. Die "Notwendigkeiten", mit denen die Parteispitze Anpassungen an globalen Wettbewerb und demografischen Wandel begründen, erleben sie als Wohlstandsverlust. Früher glaubten sie an sozialen Aufstieg und engagierten sich in der SPD und in den Gewerkschaften. Heute fürchten sie den gesellschaftlichen Absturz - und flüchten in Apathie.
Die SPD hat viele Traditionswähler verloren, die Mitte nicht hinreichend erreicht -und die Leitmilieus nicht halten können. Die gesellschaftliche Avantgarde wird heute in der SPD nur derjenige finden, der Günter Grass noch für solche hält. Und die Jugend? Die bekommt von den dominierenden Alt-68ern in der SPD zu hören, sie müsse so sein wie sie selbst früher waren: Gegen etwas. Nichts schreckt effektiver ab.
Etwas besser, aber lange nicht gut geht es der CDU, Heimat der Bürger und Bauern. Vorbei die Zeit, in der sie, wie der Politikwissenschaftler Franz Walter das nennt, "in harmonischer Symbiose mit Mitte und Mehrheit der deutschen Gesellschaft lebte". Die Säkularisierung, der Postmaterialismus, der Siegeszug neoliberalen Gedankenguts, die breite gesellschaftliche Liberalisierung, von der Integrationspolitik über das Elterngeld bis zur Homo-Ehe, haben die konservative Trutzburg in mehreren Schüben geschliffen. Die CDU ist heute entbürgerlicht: Von den jungen Hochgebildeten stimmten bei der vergangenen Bundestagswahl nicht einmal 15 Prozent für die Union. Hinzu kommt, dass in der Zeit seitdem, in der Zeit der Großen Koalition, die CDU gleich drei Gruppen ihrer Kernwähler verschreckt hat: die Konservativen durch die liberale Familienpolitik, die Marktwirtschaftler durch Mindestlöhne und Verstaatlichungsprojekte, die Katholiken durch die Papst-Kritik. Nach dreieinhalb Jahren an der Regierung hat die CDU zwar eine beliebte Kanzlerin - aber keinen Kern mehr. In diesem Zustand kann man am 27. September zwar eine Wahl gewinnen. Als Volkspartei überleben kann man so aber nicht.
Der Autor ist Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit".