JUGENDLICHE IM SPORTVEREIN
Wie sehen sie das Parlament?
Mit dem Fahrrad sind es nur 15 Minuten vom Bundestag in die Bernauer Straße im Berliner Wedding. Trotzdem scheint das Parlament von der Turnhalle der Ernst-Reuter-Gesamtschule Lichtjahre entfernt. In der Luft hängt der Mief von einem halben Jahrhundert Bockspringen und Brennballspielen; Generationen von Schülern haben hier schon geschwitzt. Während die Abgeordneten an diesem Mittwochnachmittag noch in den Ausschüssen sitzen, über das Konjunkturpaket oder die Neuregelung der Kfz-Steuer beraten, trainieren die Nachwuchsspieler des Tischtennisvereins Hertha BSC bereits konzentriert Topspin und Rückhand-Block. Rund 20 Jungs zwischen 12 und 22 Jahren stehen an den tiefblauen Tischtennisplatten, den Blick auf den kleinen, weißen Ball gerichtet, der in rasender Geschwindigkeit über die Netze saust. Tack-tack. Tack-tack. Tack-tack. So geht das hier jeden Tag. Sport ist für diese Jugendlichen alles, das Leben. Viele kommen mehrmals in der Woche zum Training, regelmäßig gibt es Punktspiele und Turniere.
Haben sie da noch Zeit zu verfolgen, was 15 Minuten entfernt unter der Kuppel des Reichstages passiert? Interessiert es sie überhaupt? Während dieses Nachmittags mit den Wählern von morgen wird schnell klar: Es gibt so viele Antworten auf diese Fragen, wie Schüler und junge Studenten in diesem Verein trainieren.
Der 17-jährige An, dessen Eltern einst aus Vietnam nach Deutschland kamen, ist mit Politik zum Beispiel nur schwer von der Platte zu locken. "Mein Hobby ist Tischtennis", sagt er klipp und klar. Er hoffe, damit später mal ein kleines Taschengeld verdienen zu können. Sein Eindruck vom Parlament, von den Abgeordneten im Bundestag? "Ich habe eigentlich keinen. Aber die verpfuschen ziemlich viel. Das letzte Konjunkturpaket zum Beispiel", sagt er nach längerem Nachdenken. Das müsse man aber so hinnehmen. An nestelt an seiner Wasserflasche. "Ich kann wenig zu dem Thema sagen", fügt der 17-Jährige hinzu. Es sei ihm auch nicht wichtig. Wenn er Kanzler oder Bundestagspräsident wäre, würde er alles so lassen, wie es ist. "Mich stört nichts. Mir geht es ganz gut." Dann spielt er weiter. Tack-tack. Tack-tack. Tack-tack. Mit bis zu 200 Kilometern pro Stunde fliegen die Bälle über den Tisch. Keine Zeit, viel zu nachdenken. Schon gar nicht über Politik.
An der Platte daneben trainiert der 13-jährige Max. Was soll er schon über das Parlament erzählen, sagt sein Blick. Namen von Politikern oder Parteien fallen ihm nicht ein. "Keine Ahnung", meint er. Weiß er denn, was die Abgeordneten im Bundestag machen? "Ich weiß überhaupt nicht, was die machen", sagt Max unumwunden und fügt hinzu: "Man hört ja kaum was von denen." Dabei sage man doch, dass Politiker zwölf Stunden am Tag arbeiten. "Aber die erreichen kaum was, nur Kleinigkeiten. Ob man mit 0,2 oder 0,3 Promille Auto fahren darf. So was eben." Er verschränkt die Arme. "Mir ist das auch egal. Ich zocke lieber mit meinen friends." Max erklärt, dass er fünf Stunden am Tag im Internet, am liebsten mit dem Computerspiel Warcraft (zu deutsch "Kriegshandwerk"), verbringt. Im Netz trifft er sich mit anderen Spielern, um gegen sie anzutreten - "zocken" nennt er das. Am Abend guckt er Fernsehen. Nachrichten? Laufen bei seinen Eltern nie, auch eine Zeitung gibt es nicht. Warum auch, sagt Max, er habe ja seinen eigenen Laptop - "für 1.500 Euro". Er lässt noch wissen, dass er Informationstechniker oder Schlagzeugspieler werden will, dann schlurft er gelangweilt davon.
Wo sind hier nur die Jugendlichen, die nicht gleich das Gesicht verziehen, wenn von Politik die Rede ist?
Es gibt sie, auch in diesem Verein, und einer von ihnen ist der 13-jährige Rodney. Der Junge mit dem blonden Stoppelhaarschnitt kommt dreimal in der Woche nach der Schule - extra aus Brandenburg - zum Training. Er hat im Politikunterricht eine 2. "Wenn dit jute Themen jibt, interessiert et mich ooch", sagt er und lächelt verschmitzt. Abends guckt er mit seinem Papa die Tagesschau, überhaupt ist Politik oft ein Thema zu Hause. "Da is man informiert. Wenn andere dann über Politik reden, weeß man, worum et jeht." Das ist ihm wichtig, neben dem Sport - mitreden können, mitdenken, wissen, was läuft. Allerdings fragt er sich manchmal, "warum die im Bundestag immer so ausrasten", wenn sie sprechen. "Dit is doch nich nötig", meint er und greift sich an die Stirn. Er findet auch, dass Politiker sich zu wenig um Kinder kümmern und dass sie ehrlicher sein sollten. Beim Thema Finanzkrise zum Beispiel: In den USA sage Obama wenigstens, was los sei. Dabei sei der nur wenige Monate im Amt. "Dit sollten die hier ooch mal so machen."
Rodney hat trotzdem Respekt vor den Politikern: "Is doch richtig, dass sie da sitzen und gut verdienen. Die im Bundestag waren bestimmt gut in der Schule." Faul seien die bestimmt nicht. Gefragt, was die Abgeordneten so machen, überlegt er kurz. "Die bestimmen zum Beispiel, was gebaut werden darf", sagt er dann. Ob er sich vorstellen kann, selbst mal Abgeordneter zu werden? "Auf keinen Fall." Er schüttelt den Kopf. "Die haben viel zu viel zu tun und werden ständig kritisiert. Dit is doch unanjenehm."
Rodney will lieber Dachdecker werden oder - natürlich - wie viele im Verein Tischtennisspieler. Und eines weiß er ganz bestimmt: Wenn er 18 ist, will er wählen gehen. Denn: "Wenn man nicht zur Wahl geht", sagt er mit ernster Mine, "darf man sich auch nicht aufregen, wenn die CDU gewinnt, obwohl man für die SPD war."
Dann verabschiedet er sich höflich und geht zurück an die Platte. Aufschlag Rodney. Der Ball saust über das Netz. Tack-tack. Tack-tack. Tack-Tack. Ein ganz normaler Nachmittag im Berliner Tischtennisverein Hertha BSC .