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Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts kann sich ein Gesetzesinitiativrecht für Bürger vorstellen
Die Demokratie des Grundgesetzes ist eine dezidiert parlamentarische Demokratie. Der Deutsche Bundestag ist auf der Ebene des Bundes das einzige Verfassungsorgan, das über eine unmittelbare Legitimation durch das Staatsvolk verfügt. In derselben Weise sind es in den Ländern ausnahmslos und ausschließlich die Landesparlamente, die unmittelbar vom Volk gewählt werden. Sämtliche anderen Verfassungsorgane in Bund und Ländern leiten ihre Legitimation von den Parlamenten ab.
Die Parlamente sind damit notwendige Glieder in jeder demokratischen Legitimati-onskette, gleichgültig ob es um die Berufung in staatliche Ämter oder um die Kontrolle und die Verantwortlichkeit bei der Ausübung von Staatsgewalt geht. Hinzu kommt, dass das Grundgesetz Formen der unmittelbaren oder plebiszitären Demokratie wie Volksbegehren oder Volksentscheide nur in wenigen Ausnahmefällen kennt.
Schließlich verlangen der rechtsstaatliche Vorbehalt des Gesetzes und das Demokratieprinzip, dass die Parlamente alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen und nicht anderen Normgebern überlassen. Weitere wichtige Funktionen der Parlamente sind etwa das klassische Budgetrecht und der vom Bundesverfassungsgericht betonte Parlamentsvorbehalt beim Einsatz der Streitkräfte.
Die Bedeutung der Parlamente in Deutschland könnte also - jedenfalls nach der Konstruktion unserer Verfassung - kaum größer sein. Und rechtlich gesehen ist die parlamentarische Demokratie im Rahmen des Grundgesetzes auch unbestreitbar verwirklicht. Es gibt freie, gleiche, unmittelbare und geheime Wahlen auf Bundes- und Landesebene, bei Abstimmungen herrscht das Mehrheitsprinzip, Minderheiten werden geschützt, die politischen Parteien werden auch von der Verfassung in ihrer unverzichtbaren Rolle bestätigt. Dabei sind die Parlamentarier Vertreter des ganzen Volkes und die für Bundestagsbeschlüsse notwendigen Mehrheiten sind sorgfältig austariert - sie werden umso größer, je wichtiger die zu treffende Entscheidung ist, von der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen über die Mehrheit aller Mitglieder des Bundestages bis hin zur 2/3-Mehrheit bei Verfassungsänderungen.
Rechtlich gesehen nehmen die Parlamente also eine zentrale Stellung im Staatsgefüge ein. Umso nachdenklicher stimmt es, wenn heute oft und wohl nicht völlig ohne Grund von Bedeutungseinbußen der Parlamente und einer "Entparlamentarisierung" der Politik die Rede ist - nicht zuletzt auch bei den Parlamentariern selbst.
Diese "Entparlamentarisierung" hat viele Ursachen. Zum einen wird die Gestaltungsmacht der Parlamente gerade auch in den Bundesländern dadurch geschwächt, dass die Regierungen zunehmenden Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen. Dieses Übergewicht der Exekutiven setzt sich im Bund-Länder-Verhältnis in dem starken Einfluss der Landesregierungen auf die Bundespolitik mittels des Bundesrates fort. Oft vollzieht sich die Rechtsetzung im Bereich der ländereigenen Kompetenzen so, dass sich die Landes-regierungen abstimmen und den Landesparlamenten nur noch die Rolle als "Ratifikationsinstanz" bleibt. Spiegelbildlich verhält es sich im Bereich der EU - werden die Mitgliedstaaten doch im entscheidenden Rechtsetzungsorgan der Union, dem Rat, durch Mitglieder der Exekutive, vertreten.
Zum anderen sind auch die Funktionsbedingungen der sogenannten Mediendemo-kratie ein bedeutsamer Faktor, der auf die Politik im Allgemeinen und die Arbeit der Parlamente im Besonderen einwirkt. Gerade die parlamentarische Demokratie ist auf die Vermittlung durch die Medien angewiesen. Gleichzeitig transportieren die Medien aber nicht nur, sie formen auch Inhalte: Nur was mediengerecht präsentiert werden kann, hat die Chance, wahrgenommen zu werden. Die Folge ist, dass sich die Politik, soweit sie die Öffentlichkeit sucht, zunehmend aus den Parlamenten in die verschie-denen Formen der Medienpräsenz verlagert hat. Das Wort von den Talkshows als den "Ersatzparlamenten der Republik" ist wohl überzogen, zeigt aber dennoch, worum es geht. Gleichzeitig ist eine nicht zu unterschätzende Passivität des Volkes bei seiner Teilhabe am politischen System erkennbar, die etwa in einer zunehmend geringeren Wahlbeteiligung und unübersehbaren Zeichen von Politikverdrossenheit zum Ausdruck kommt.
Dafür sind viele Faktoren verantwortlich, die weit über das Wahlrecht im eigentlichen Sinn hinausgreifen. Ihm kommt in einer parlamentarischen Demokratie dennoch eine besondere Bedeutung zu. Welche Folgen hat es mit Blick auf die Politikverdrossenheit? Welche Möglichkeiten zum Gegensteuern und zur Reform gibt es?
Die Frage einer Wahlrechtsreform ist in erster Linie eine rechtspolitische und deshalb vornehmlich von den politischen Akteuren zu beurteilen. Allerdings sollte auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive nach Reformmöglichkeiten gefragt werden, die dabei helfen können, die Steuerungs- und Handlungsfähigkeit des Staates und seines parlamentarischen Systems zu sichern.
Eine Entscheidung zugunsten eines Wahlsystems, etwa des Verhältnismäßigkeits- oder des Mehrheitswahlrechts, ist im Grundgesetz nicht getroffen worden. Es formuliert nur Wahlrechtsgrundsätze, insbesondere die Gleichheit der Wahl, die bei allen derzeit diskutierten Reformmodellen zu beachten wären. So müsste das Modell eines sogenannten Kinder- oder Familienwahlrechts, also eines Systems, in dem Eltern Stimmen für ihre minderjährigen Kinder abgeben können, alle mit ihm verbundenen Zweifel hinsichtlich der Gleichheit der Wahl zerstreuen können - eine nur schwer lösbare Aufgabe. Wollte man das Wahlsystem grundlegend - etwa weg vom Verhältniswahlrecht zum Mehrheitswahlrecht - ändern, wäre eine Verfassungsänderung formal gesehen nicht erforderlich. Eine solche Systementscheidung sollte aber in jedem Fall von breiten parlamentarischen Mehrheiten getragen sein.
Anstelle eines kompletten Systemwechsels würde das Grundgesetz auch Veränderungen innerhalb des bestehenden Bundeswahlsystems ermöglichen. Insbesondere könnte dem Wähler (auch) bei der Bundestagswahl die Möglichkeit gegeben werden, innerhalb der Landeslisten mehrere Stimmen auf einen Kandidaten abzugeben und so die Reihenfolge der Kandidaten zu ändern. Das Verfahren existiert bereits auf Länderebene, vor allem bei Kommunalwahlen.
Eine weitere Möglichkeit, dem Bürger mehr politische Gestaltungsmacht zu geben, wäre ein Gesetzesinitiativrecht, wie es der Vertrag von Lissabon auf EU-Ebene vorsieht. Im Gegensatz zur Länderebene sind plebiszitäre Elemente auf Bundesebene vom Grundgesetz so gut wie nicht vorgesehen. Das hat an sich einen guten Grund, sind doch die Gesetzgebungsaufgaben gerade auf Bundesebene hoch komplex. Es wären aber auch differenzierende Lösungen vorstellbar - ähnlich den im Vertrag von Lissabon vorgesehenen: Demnach sollen Unionsbürger, vorausgesetz es sind mehr als eine Million "aus einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten", die Kommission auffordern können, Vorschläge für Rechtsakte zu bestimmten Sachverhalten vorzulegen.
Würde eine vergleichbare Möglichkeit auf Bundesebene eröffnet, hätten nicht mehr nur Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung das Recht zur Einleitung eines Gesetzgebungsverfahrens; vielmehr könnte ein solches auch vom Volk initiiert werden. Der Beschluss eines solchen Gesetzes bliebe aber dem Parlament vorbehalten. Schließlich spräche die Komplexität der Gesetzgebung gerade auf der Bundesebene auch für eine Verlängerung der Legislaturperiode des Deutschen Bundestages auf fünf Jahre.
Selbst wenn es zu einer Stärkung der Parlamente und des politischen Engagements des Volkes kommen sollte, wird es mindestens genauso wichtig sein, dass auf den Weg gebrachte Gesetze auch tatsächlich hinreichend vollzogen werden - denn Vollzugsdefizite sind ein wichtiger Faktor für Politik- und damit letztlich auch Rechtsverdrossenheit der Bürger.
Der Autor ist Präsident des Bundesverfassungsgerichts.