entwicklung
Beim Parlamentarismus handelt es sich eigentlich um ein neues Modell - vor allem in Deutschland
Es ist schon seltsam. Wenn westliche Politiker wieder einmal irgendwo auf der Welt die Einhaltung der Menschenrechte einfordern und ihrer Überzeugung von den gemeinsamen Werten der demokratisch verfassten Staaten Ausdruck verleihen, verbergen sich dahinter fast immer zwei institutionelle Forderungen - unabhängige Gerichte und eine parlamentarische Vertretung, also die Mitwirkung der Herrschaftsunterworfenen an der Herrschaftsausübung durch gewählte Vertreter.
Beides ist nicht so alt, dass man von einem universellen Grundsatz zumindest der abendländischen Geschichte sprechen könnte. Noch Egon Friedell, dem Universalgelehrten der Neuzeit, sind Parlamente und Parlamentarismus nicht einen Satz in seiner Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts erschienenen Kulturgeschichte der Neuzeit wert. Der Reichstag der Weimarer Republik war offensichtlich keine Institution, die ein deutscher Intellektueller mit Kultur in Verbindung brachte.
Tatsächlich stammen die ersten Parlamente aus einer Zeit, die man gern als finsteres Mittelalter bezeichnet, und sie haben nichts mit der griechischen Demokratie zu tun, auf deren Erbe wir uns sonst gern beziehen. In Athen und den es nachahmenden Städten und Gemeinden war die Volksversammlung das höchste Entscheidungsgremium. Ihr gehörten alle erwachsenen, freien, männlichen Bürger an. Sie entschied letztinstanzlich politische wie juristische Angelegenheiten, das heißt, sie war Gesetzgebungsorgan, Verwaltungsbehörde und Gericht. Dass ihre Entscheidungen und Urteile nur selten vernünftig und noch seltener gerecht waren, hat dem Ansehen der athenischen Demokratie bei späteren Generationen kaum Abbruch getan. Nicht nur "handelte es sich um eine glatte Klassenjustiz, sondern auch um eine verantwortungslose, leidenschaftliche, erregte Menge, die sich von demagogischen Hetzereien, Advokatenkniffen und Augenblicksstimmungen willenlos treiben ließ", wie es derselbe Friedell in seiner Kulturgeschichte Griechenlands beschreibt.
Es war nicht dieses Vorbild, das mehr als 1.500 Jahre später, am 15. Juli 1215, einige englische Adelige dazu brachte, auf einer Wiese unweit des kleinen Fleckens Windsor ihren König ein paar Grundsätze, die sie vorher aufgeschrieben hatten, beschwören zu lassen. Mit dieser Magna Charta beginnt der lange Weg zur parlamentarischen Demokratie, auch wenn die Prinzipien einer demokratischen Regierung oder gar der Begriff Menschenrechte in ihr fehlen. Auch das Wort Parlament kommt noch nicht vor. Es war ein Dokument der feudalen Beschwerden, denen der König künftig unter Mitwirkung seiner Barone abzuhelfen versprach. Das Neue bestand darin, dass der König auf einmal nicht mehr über dem Gesetz stand, sondern das Gesetz der gemeinsam beschworenen Charta über dem Monarchen.
Um die Mitte des 13. Jahrhunderts kam das Wort Parlament auf. Winston Churchill schreibt dazu in seiner "Geschichte der englisch sprechenden Völker": "1086 pflog Wilhelm der Eroberer ,eingehende Zwiesprache' mit seinen Weisen, ehe er die Reichsgrundbucherfassung begann. Im Lateinischen hätte man das ein Colloquium genannt und colloquy ist die im 12. Jahrhundert für Beratungen zwischen dem König und seinen Großen übliche Bezeichnung. Das hin und wieder stattfindende Kolloquium über wichtige Angelegenheiten des Königreiches kann zu dieser Zeit als Parlament bezeichnet werden. Häufiger aber meint man damit den ständig tagenden Rat aus Beamten und Richtern, der in Westminster saß, um Petitionen entgegen zu nehmen, Streitigkeiten zu schlichten und das geltende Recht aufrechtzuerhalten. Im 13. Jahrhundert galt die Bezeichnung Parlament für zwei völlig verschiedene, wenn auch miteinander verbundene Institutionen. Wollen wir ihre Funktionen in heutigen Begriffen ausdrücken, so ließe sich sagen, dass die erste dieser Versammlungen sich mit Politik, die zweite mit Gesetzgebung und Verwaltung befasste."
Eine ganze Zeit sah es so aus, als ob die englische Verfassung sich ähnlich entwickeln würde wie die französische, in der die eigentliche Regierung aus einem König im Rat bestand, die Großen nur noch die Nobilität vertraten und das Parlament lediglich rechtliche Angelegenheiten klärte.
Doch dann nahm die Geschichte einen anderen Verlauf. Um eine königliche Misswirtschaft zu beseitigen, berief der anglo-französische Adlige Simon von Montfort im Auftrag seines Königs 1265 ein Parlament ein, zu dem er sowohl die Abgeordneten der Grafschaften wie die der Städte einberufen hatte - und das zum ersten Male auch so hieß. Damit beginnt die Geschichte des modernen Parlamentarismus.
Zwar versuchten viel später der Stuart-König Karl I. und der Lordprotektor Oliver Cromwell noch einmal ohne Parlament zu regieren, doch endeten beide Versuche kläglich: im ersten Fall mit der großen Rebellion, die zum Sturz des Königtums und der Hinrichtung Karls führte, im zweiten Fall mit der Restauration eben dieser Stuarts und des Parlaments, die bis zum heutigen Tag fortdauert. Was in England eine lange und erfolgreiche Geschichte ist, ist in Frankreich eine weit kürzere und sehr gemischte. Anders als dem englischen Adel gelang es dem französischen nicht, aus den Parlamenten, die Rechtsakte zu registrieren hatten, politische Mitwirkungskörperschaften zu formen, die dem König Paroli boten. Die absolute Monarchie des Sonnenkönigs war die Folge.
Erst in der Revolution von 1789 entstand aus den Generalständen durch den Übertritt von Adel und Geistlichkeit zum dritten Stand eine Nationalversammlung, die bald als Legislative, bald als Nationalkonvent weder die Diktatur des Wohlfahrtsausschusses noch die napoleonische Autokratie zu zähmen vermochte. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch wiederholten sich in Frankreich die Versuche, entsprechend der Montesquieuschen Gewaltenteilungslehre die monarchische Exekutive in ein funktionierendes Gleichgewicht zur parlamentarischen Legislative zu bringen. Erst mit dem Ende des zweiten Kaiserreiches bei Sedan im Jahre 1871 siegte das Parlament endgültig über die Exekutive, wurde wie in England schon seit 1688 das Parlament souverän und letztlich Ursprung auch der exekutiven Gewalt: eben eine parlamentarische Monarchie.
Heute orientiert sich das französische Modell wieder stärker an Montesquieu, wobei der Souverän, das Volk, getrennt beide Gewalten bestimmt, den Staatspräsidenten und die Kammern. Dies ist eine späte Hommage an das amerikanische Vorbild, dem man seit der Unterstützung im Unabhängigkeitskrieg innerlich verbunden blieb. Verfassungsrechtlich sind sich Amerika und Frankreich heute ähnlicher als die beiden angelsächsischen Schwestern, da England - obwohl missverstandenes Urbild der Gewaltenteilungslehre Montesquieus - keine echte Gewaltenteilung mehr kennt. Die ganze Souveränität liegt hier seit der Glorreichen Revolution von 1688 beim Parlament.
Da Deutschland die längste Zeit kein Nationalstaat war, war auch sein Parlamentarismus immer eher Nachahmung als originäre Schöpfung, zumal die alten Reichsstände, die eher Gesandtenkongress als parlamentarische Vertretung waren, mit dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1805 gänzlich aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwanden. Unter dem Einfluss der französischen Revolution und nach dem Modell des englischen Parlaments wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den deutschen Einzelstaaten Parlamente gebildet und schließlich im Gefolge der Revolution von 1848 auch ein gesamt- deutsches.
Doch wie nach 1918 Republik, Parlamentarismus und Demokratie von der Niederlage infiziert waren, so war es auch der parlamentarisch-demokratische Versuch der Paulskirche durch das Scheitern der Revolution. Damit war der Reichstag des Norddeutschen Bundes und später des Deutschen Reiches so etwas wie eine milde Gabe Bismarcks, sein Zugeständnis an die Nationalbewegung, mit der er sich gegen Österreich verbündet hatte.
Der Reichstag wurde zwar in allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen gewählt, aber der Kanzler war nicht ihm, sondern dem Kaiser verantwortlich. Man brauchte ihn zu Steuerbewilligung und Gesetzgebung, aber die Regierungsmacht lag woanders. So kannte der Reichstag zwar bedeutende Parlamentarier wie Eugen Richter, Ludwig Windhorst, August Bebel oder Johannes von Miquel, aber keine Staatsmänner wie Gladstone, Disraeli, Asqith oder Lloyd George, die aus dem Parlament heraus die Geschicke der Nation lenken konnten. Und während in England schon im 18. Jahrhundert die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes waren, wie es Edmund Burke in seiner berühmten Rede an die Wähler von Bristol 1774 postuliert hatte, blieben die Abgeordneten des Reichstages an die Weisungen ihrer Parteien gebunden; wirkungsmächtig bis zuletzt, als die sozialdemokratischen Abgeordneten ihre eigene Regierung wegen der Erhöhung der Arbeitslosenversicherung um ein halbes Prozent im Stich ließen und so das Ende der Weimarer Republik einläuteten.
Erst die Katastrophe des "Dritten Reiches" machte aus der im Grundgesetz aufs Neue verankerten parlamentarischen Demokratie eine alternativlose Regierungsform, die von niemandem mehr in Frage gestellt wird und deren Vor- wie Nachteile nicht mehr zum Zwecke ihrer Beseitigung diskutiert werden. Wie die Farben Schwarz, Rot, Gold haben sich regelmäßige Wahlen zum Deutschen Bundestag uneingeschränkt durchgesetzt und einen Legitimitätsstreit beendet, der bisher noch jede parlamentarische Demokratie in der deutschen Geschichte als ein Übergangsregime erscheinen ließ.
Auch in Deutschland ist das Parlament die Vertretung des wahlberechtigten Staatsvolkes und nun unangefochten souverän. Oder um es mit dem Historiker Heinrich August Winkler auszudrücken: Der lange Weg nach Westen ist vollendet.
Der Autor ist Publizist in Potsdam.