Sie waren die letzte Präsidentin der Volkskammer und zwölf Jahre Mitglied des Bundestages. Wo lagen die Unterschiede zwischen den beiden Parlamenten?
Da gab es gravierende Unterschiede. In die erste frei gewählte Volkskammer wurden viele Abgeordnete gewählt, die wenig politische und gar keine parlamentarische Erfahrung hatten. Viele von ihnen hatten von heute auf morgen ihren Arbeitsplatz verlassen und sind aufgrund der politischen Umwälzungen in die Politik gegangen. Ein so routinierter Sitzungsablauf wie im Bundestag war da natürlich nicht zu erwarten. Zumal unsere Geschäftsordnung allenfalls rudimentär zu nennen war.
Hat Sie denn in dieser Frage nicht der Bundestag beraten und gesagt: Ihr müsst das so machen?
Nein, dessen Geschäftsordnung war zwar für uns eine Grundlage. Wir haben aber versucht, aufgrund der Aufbruchstimmung unsere Regelungen nicht so streng zu fassen. Der Geschäftordnungsausschuss hat sie dann ständig angepasst, da wir durchaus Situationen hatten, wo uns das Ganze ein wenig aus dem Ruder gelaufen ist. Das Bedürfnis der Parlamentarier, sich mit Zwischenfragen zu Wort zu melden war riesig. Die Debatten wurden zudem vollständig im Fernsehen übertragen, mit super Einschaltquoten. Es war für die Menschen sehr spannend zu erleben, was in dieser kurzen Zeit passiert ist.
In den sechs Monaten der frei gewählten Volkskammer - was wurde da politisch entschieden?
Es sind 164 Gesetze in 39 Plenartagungen verabschiedet worden. Zudem noch 93 Beschlüsse. Es wurde eine gewaltige Arbeit geleistet. Denken Sie nur an den Einigungsvertrag und an die Währungsunion. Man kann wirklich sagen, dass damals Tag und Nacht gearbeitet wurde. Es war ein sehr fleißiges Parlament.
Wie ging es nach dem 3. Oktober weiter?
Mit der Deutschen Einheit wurden 144 Abgeordnete der Volkskammer entsprechend der Fraktionsstärke in den Bundestag delegiert. Ich persönlich wurde Bundesministerin für besondere Aufgaben und später Staatssekretärin im Gesundheitsministerium.
Wurden denn die Neuparlamentarier aus dem Osten im Bundestag auch ernst genommen?
Unsere unkonventionelle Art wurde sicher manchmal als störend empfunden. Außerdem waren wir auch eine Konkurrenz für lang gediente Abgeordnete. Hinzu kam, dass es viele Missverständnisse zwischen Ost und West gab. Mich hat geärgert, dass positive Erfahrungen - etwa aus dem DDR-Gesundheitswesen - schlichtweg ignoriert wurden. Ehe sich das geändert hat, vergingen ein paar Jahre.
Die Fragen stellte
Götz Hausding.