lehren
Eine Entwicklung wie 1933 ist heute nahezu ausgeschlossen - auch wegen der Parteien
Eines der Hauptziele bei den Grundgesetzberatungen 1948/49 war, die Fehler von Weimar zu vermeiden, die den Wandel vom Parlamentarismus zum autoritären Präsidialsystem und dann zur totalitären Diktatur mit ermöglicht hatten. Diese Betrachtungsweise mag verkürzt gewesen sein - im Grunde war die Republik schon 1920 auf die schiefe Ebene geraten, als die demokratische "Weimarer Koalition" ihre Mehrheit verlor und die das "System" bekämpfenden Extreme ihren Aufstieg begannen.
Frankreich existiert heute komfortabel mit einer Verfassungskonstruktion, die der von Weimar ähnlich ist. Weimar hätte nicht scheitern müssen, wenn die parlamentarische Demokratie in der politischen Kultur verankert und im öffentlichen Bewusstsein akzeptiert gewesen wäre. Das war sie nicht.
Weimars Parlamentarismus beruhte auf irrigen Gleichgewichts- und Gewaltentrennungstheorien, die sich gegen die Parteien richteten. Exzessive Parlamentsherrschaft sollte durch den Reichspräsidenten ausgeglichen werden - der "Ersatzkaiser", der auch über den Ausnahmezustand gebot. Als echtes Gegengewicht bedurfte auch er plebiszitärer Legitimation. So kam es zum verhängnisvollen Dualismus zweier schwer vereinbarer Strukturprinzipien: des parlamentarischen und des präsidialen. Das parlamentarische Regierungssystem wurde unvollkommen etabliert, da die Regierung zwar das Vertrauen des Reichstages genießen sollte, dieser selbst aber zur Mehrheitsbildung nicht gezwungen war: Der Reichspräsident ernannte den Kanzler; er konnte auch das Parlament auflösen und die Regierung zu Notverordnungen ermächtigen, also zur Gesetzgebung jenseits parlamentarischer Mehrheiten.
Schon bei den Beratungen zur Verfassung klagte Hugo Preuss, ihr maßgeblicher Schöpfer, die Parteien begriffen nicht, dass die Regierung "Fleisch von ihrem Fleische und Blut von ihrem Blut" sei. Am Ende war das Vertrauen, auf das die Regierung sich stützte, das des Reichspräsidenten. Der Reichstag hatte die Fähigkeit, eine Regierung zu bilden und zu stützen längst verloren - nicht aber die, sie zu stürzen. Solange kein Misstrauensvotum erging, konnte regiert werden. Politische Radikalisierung beförderte diese Haltung, ebenso die Zerklüftung des Vielparteiensystems. Weimar scheiterte an den Einstellungsdefiziten der meisten politischen Akteure, die defizitäre Verfassungsnormen für ihre destruktiven Zwecke nutzten.
Das Grundgesetz kennt keinen Ersatzkaiser. Angesichts der historischen Erfahrungen richtet es sein Augenmerk darauf, es den Parteien möglichst schwer zu machen, sich aus der Verantwortung zu stehlen. So wählt der Bundestag mit absoluter Mehrheit den Bundeskanzler. Das Parlament kann die Regierung nur stürzen, indem es mit absoluter Mehrheit einen anderen Kanzler wählt: Sogar das Misstrauen muss konstruktiv sein.
Die Rolle des Bundespräsidenten bei Regierungsbildung und Parlamentsauflösung ist auf die eines "ehrlichen Maklers" reduziert. Schließlich ist es dem Parlament kaum erlaubt, sich seiner Gesetzgebungsfunktion zu entledigen: Der für präzise definierte Krisensituationen vorgesehene Gesetzgebungsnotstand nach Art. 81 GG wurde in sechs Jahrzehnten noch nie angewandt. Dies beweist auch, dass die Parteien nach 1949 stärker als in Weimar bereit waren, politische Verantwortung zu tragen. Hierin liegt das eigentliche Stabilitäts- und Erfolgsgeheimnis des politischen Systems der Bundesrepublik.