Parlamentarischer Alltag
Der Bundestag früher und heute - zwei Beispiele
Für Marcus Weinberg ist sein Job immer noch etwas Besonderes: Vor rund dreieinhalb Jahren zog der Lehrer für die CDU in den Bundestag ein und pendelt seither zwischen seinem Wahlkreis in Hamburg-Altona und der Hauptstadt. Mit seinen Arbeitsbedingungen ist er sehr zufrieden: "Hier herrschen hohe Standards. Die Mitarbeiter sind sehr bemüht, alle Wünsche sofort zu erfüllen."
Vier Mitarbeiter beschäftigt Weinberg in seinem Büro im Paul-Löbe-Haus, ein weiterer kümmert sich um das Hamburger Büro. Auch wenn das Arbeitspensum hoch ist und der Anteil an Freizeit immer kleiner wird: Man merkt Weinberg an, dass ihm das Abgeordneten-Dasein Spaß macht.
An deutlich mehr Unzufriedenheit gerade zu Beginn seiner politischen Karriere erinnert sich ein anderer Hamburger. Hans Apel, den ehemaligen Finanz- und Verteidigungsminister, trennen von Weinberg in der Hansestadt ein paar Kilometer - und etliche Jahrzehnte: 1965 zog Apel für die SPD in den Bundestag ein und verließ ihn erst 1990 wieder. "Mein Büro hatte damals 15 oder 20 Quadratmeter, das teilte ich mir mit einem anderen Abgeordneten. Jeder von uns hatte einen Schreibtisch und einen Spind, das war's. Für Schreibarbeiten konnten wir im Zentralsekretariat des Bundestags anfragen; da gab es ein paar Mitarbeiterinnen für den gesamten Bundestag. Auf die Expertisen des wissenschaftlichen Dienstes musste man lange warten - das war ja nur ein ganz kleiner Laden, mit dem fantastischen Wissenschaftlichen Dienst von heute gar nicht vergleichbar." Negativer noch als die technische und organisatorische Ausstattung erscheint ihm die damalige Arbeitsorganisation in den Fraktionen: Eine "Drei-Klassen-Gesellschaft" habe es im Bundestag der 1960er Jahre gegeben: "Während die Fraktionsspitze und die Abgeordneten, die von Verbänden entsandt und unterstützt wurden, komfortabel ausgestattet waren, waren wir einfache Abgeordnete mehr der weniger Fußvolk ohne Einfluss."
Eine Erfahrung, die Weinberg nicht gemacht hat. Er kam auf Anhieb wie gewünscht in den Bildungsausschuss und hatte immer das Gefühl, gehört zu werden. "Natürlich braucht man eine gewisse Zeit, bis man die Strukturen durchschaut. Aber wer gute Ideen hat, wird nicht in die zweite Reihe gestellt, sondern kann sich auch schon im Laufe der ersten Legislatur ein gutes Standing erarbeiten."
Zu schaffen macht dem 41-Jährigen dagegen das Pensum der Sitzungswochen. "In Berlin ist alles straff durchorganisiert. Man reist montags an, hat Sitzung mit der Landesgruppe. Am Dienstag ist dann Arbeitskreis und Fraktion, am Mittwoch tagt der Ausschuss, Donnerstag und Freitag ist Plenum." Zu diesen festen Terminen komme in der Hauptstadt der Versuch, "jede nur verfügbare Minute zu nutzen. Das führt dann soweit, dass man Termine in die Zeit zwischen sieben und neun Uhr legt, um noch vor der Sitzung so viel wie möglich zu klären. Wenn es dann innerhalb von vier Wochen drei Sitzungswochen gibt, muss man schon erstmal tief durchatmen, wenn man die ,Tretmühle' wieder verlässt."
Daran kann sich auch Apel gut erinnern. "Der Parlamentsbetrieb in Sitzungswochen ist eine ganz unerträgliche Maschinerie. Diese ganzen verschiedenen Gremien erschlagen einen." In den Erfordernissen der physischen Präsenz gehe der Inhalt oft verloren: "Man kann sich in diesen stundenlangen Sitzungen nicht permanent konzentrieren, da rauscht vieles vorbei. Um ehrlich zu sein: Ich habe alle meine Bücher in Sitzungen geschrieben."
Zwischen den Plenumserfahrungen des SPD-Seniors und des CDU-Juniors liegen neben vielen Jahren, auch diverse Bestrebungen, die Arbeit des Bundestags zu reformieren. Als "kleine Parlamentsreform" gingen 1969 die Bestrebungen des Bundestagspräsidenten Kai-Uwe von Hassel (CDU) ein, das Parlament im politischen Entscheidungsprozess zu stärken.
Schon damals kritisierte "Die Zeit", wichtige politische Kontroversen würden "in jenem formelhaften Augurenstil" geführt, "der nur noch genaue Sachkenner die Positionen erahnen lässt, normale Bürger aber ratlos macht".
Unter von Hassel wurden die Fraktionsrechte ausgebaut - etwa durch das Recht der Fraktionen, Aktuelle Stunden zu selbst gewählten Themen, Anhörungen oder die Beratung von Vorlagen gegen den Willen der Mehrheit durchzusetzen. Es wurden Enquete-Kommissionen eingeführt und in den Debatten das Prinzip von Rede und Gegenrede festgelegt. Besonders wichtig für die Abgeordneten: Seit 1969 stehen ihnen finanzielle Mittel für die Beschäftigung von Mitarbeitern zur Verfügung. Deren Zahl ist von 398 auf inzwischen fast 6.000 angewachsen; während die Abgeordneten 1969 ein Budget von 1.500 Mark für dieses Personal hatten, können sie heute monatlich 14.712 Euro ausgeben. Auch die Verwaltung, die 1949 mit 434 Mitarbeitern angefangen hatte, wurde aufgestockt - heute arbeiten rund 2.600 Mitarbeiter dafür, dass der parlamentarische Betrieb rund läuft.
In den 1980er Jahren setzte die "Interfraktionelle Initiative Parlamentsreform" um die FDP-Abgeordnete Hildegard Hamm-Brücher durch, dass die Rededauer bei Plenardebatten begrenzt und Zwischenfragen erlaubt wurden; zudem gab es nun Fragestunden mit den Kabinettsmitgliedern und die Möglichkeit, Staatssekretäre in den Ausschüssen anzuhören. 1995 schließlich unternahm Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) einen weiteren Reformvorstoß: Seither gibt es unter anderem eine Plenar-Kernzeit, in der donnerstagmorgens besonders wichtige Themen diskutiert werden, und längere Kurzinterventionen. Die Abgeordnetenentschädigung orientiert sich seither an den Bezügen von Richtern an obersten Bundesgerichten. Die Festschreibung dieser Kopplung im Grundgesetz scheiterte am Bundesrat, die Frage nach einer angemessenen Besoldung der Abgeordneten des Bundestages blieb umstritten. Auch unter den Mitgliedern des Hohen Hauses selbst: Während Marcus Weinberg überzeugt ist, dass "ich natürlich schon sehr viel verdiene", die Diäten der Tätigkeit aber "angemessen" seien, hält Apel die Parlamentarier für überbezahlt. "Ich sehe durchaus eine Parallelität zwischen der Erhöhung der Bezahlung in den vergangenen Jahren und einer Abnahme der Qualität des politischen Personals." Vor allem die Regelung der Altersversorgung der Abgeordneten gefällt Apel gar nicht; ginge es nach ihm, müssten die Parlamentarier für ihre soziale Sicherung selbst sorgen.
Der Altparlamentarier bemängelt eine weitere Entwicklung im Bundestag: Weil die Themen, über die das Parlament zu entscheiden hat, immer komplexer würden, seien viele Abgeordnete zu "tief in eine Spezialmaterie eingegrabenen Experten geworden, die ohne Schwierigkeiten als Ministerialräte in Ministerien" arbeiten könnten. "Das ist aber nicht ihre Aufgabe; ein Abgeordneter soll die großen Zusammenhänge verstehen, Konsequenzen ziehen und politische Entscheidungen treffen: Er soll handeln."
Weinberg hat sich mit diesen Arbeitsbedingungen arrangiert. "Ich finde gut, wie die Fraktion organisiert ist. In den Feldern, in denen ich mich nicht auskenne, bekomme ich die Informationen von Kollegen, denen ich vertraue - und ich habe durchaus Mut zur Lücke." Trotzdem gibt er zu, bei wichtigen Abstimmungen schon mal "Bauchschmerzen" gehabt zu haben, "weil nicht wirklich alle Fußnoten allen Abgeordneten bekannt sind".
Es ist nicht nur die Arbeitsweise, die Apel und Weinberg unterscheidet. Sie nehmen auch die Aufgaben der Abgeordneten unterschiedlich war. Für Apel müssen "Abgeordnete ganz klar Vorbild sein, in allen Belangen". Weinberg glaubt, "dass Abgeordnete auch nicht besser sind als alle anderen Bürger". Auch das ist ein Wandel im Alltag des parlamentarischen Lebens - einer, den keine Reform vorhersehen konnte. Und so unterschiedlich die beiden Abgeordneten diesen Alltag auch bewerten: Sie eint der Glaube, dass das Parlament unverzichtbar ist. Und einer der schönsten Arbeitsplätze, den das Land zu bieten hat.
Die Autorin ist freie Journalistin in Dresden.