ASYLBEWERBER
Europaparlament will einheitliche Mindestregeln für Flüchtlinge
Der EU-Innenkommissar Jacques Barrot klatschte begeistert. Die Nachricht, dass der tschechische Senat dem EU-Reformvertrag am 6. Mai zugestimmt hatte, platzte mitten in die große Debatte zur Reform der Asylgesetzgebung. Sollte der Lissabon-Vertrag nun doch im kommenden Jahr in Kraft treten, würde die Arbeit von Barrots Nachfolger im Innen- und Justizressort sehr erleichtert. Denn das Europaparlament, das die Bemühungen der Kommission um einheitliche Mindeststandards unterstützt, erhielte dann noch mehr Mitspracherechte in diesem Bereich.
Beim Kleingedruckten in der Asyl- und Flüchtlingspolitik hat schon der Nizza-Vertrag, der 2003 in Kraft trat, dem Parlament mehr Einfluss gebracht. Im vergangenen Juni beschlossen die Parlamentarier zum ersten Mal ein Gesetz gleichberechtigt mit: die Rückführungsrichtlinie, die Mindeststandards bei der Abschiebung festlegt.
In einem Europa ohne Grenzkontrollen muss es für die Asyl- und Flüchtlingspolitik einheitliche Mindestregeln geben. Doch sobald es um die konkrete gesetzliche Ausgestaltung dieses Ziels geht, fürchten die Hauptstädte zu viel Einmischung aus Brüssel. Deshalb ist zehn Jahre nach dem Tampere-Gipfel in Asylfragen nur ein minimaler gemeinsamer Nenner erreicht worden. Die EU-Kommission hat inzwischen Nachbesserungen vorgeschlagen, mit denen sich vergangene Woche das EU-Parlament in erster Lesung befasste.
Dabei geht es um vier Gesetze, die Aufnahme, Verteilung, Versorgung und Registrierung von Asylbewerbern betreffen. Die Aufnahmerichtlinie regelt, welche Rechte ein Flüchtling hat, der in einem EU-Mitgliedstaat ankommt und dort Asyl beantragt. Laut Dublin-Übereinkommen ist derjenige EU-Staat für das Verfahren zuständig, an dessen Flughafen, Hafen oder Landgrenze der Asylbewerber zuerst eintrifft. Da allerdings sowohl bei den Aufnahmebedingungen als auch bei der Anerkennungsquote zwischen den Mitgliedsländern noch immer große Unterschiede bestehen, zieht es Asylsuchende eher in Länder wie Schweden, wo sie sich bessere Chancen ausrechnen können, dass ihr Antrag positiv beschieden wird.
Wie die EU-Kommission sind auch die Abgeordneten dafür, dass die Aufnahmebedingungen auf hohem Niveau angeglichen werden. "Wir haben die Aufnahmezentren besucht", berichtete der sozialistische Abgeordnete Antonio Hidalgo aus Spanien in der Debatte:"Die Bedingungen sind teilweise unzumutbar. Viele Spanier fanden im Krieg in Mexiko oder Brasilien Aufnahme, das dürfen wir nicht vergessen." Der Abgeordnete hat den Bericht des Parlaments zur Novelle der Richtlinie geschrieben und verlangt, dass jeder Bewerber einen Rechtsbeistand zur Seite gestellt bekommt. Das Gastland müsse "ein ange- messenes Lebensniveau" sicherstellen und die körperliche und geistige Gesundheit des Flüchtlings schützen. Jeder Minderjährige müsse innerhalb von drei Monaten eine Ausbildungsmöglichkeit erhalten, jeder Volljährige innerhalb von sechs Monaten Zugang zum Arbeitsmarkt.
Die Dublin-Verordnung von 2003, die die Verteilung der Flüchtlinge zwischen den Mitgliedstaaten regelt, soll ebenfalls reformiert werden. Familien sollen in jedem Fall zusammenbleiben oder in einem Land zusammengeführt werden. Wenn ein Mitgliedstaat sich einem großen Flüchtlingsansturm gegenübersieht - wie derzeit Italien oder Malta - sollen andere Mitgliedsländer einspringen. Die Abgeordneten glauben aber, dass zusätzliche Ausgleichsmechanismen geschaffen werden müssen. Sie denken dabei an Expertenteams aus mehreren Staaten, die bei den Formalitäten helfen und Wiederansiedelungsprogramme in anderen EU-Ländern unterstützen. Der maltesische Abgeordnete Simon Busuttil (EVP) kritisierte in diesem Zusammenhang die italienische Regierung scharf:"Italien weigert sich, die Menschen zu retten, obwohl sie laut Völkerrecht in den Hafen von Lampedusa gebracht werden müssten. Dieses Verhalten ist illegal und inhuman."
Auch die holländische Berichterstatterin für das Gesetz, Jeanine Hennis-Plasschaert von den Liberalen, kritisierte den Egoismus der Regierungen:"Es klafft eine riesige Lücke zwischen den Erklärungen und der Realität. Der gemeinsame Nenner im Rat ist sehr niedrig." Die Dublin-Verordnung sei als Instrument der Lastenteilung nicht geeignet, dafür müsse eine breitere Lösung gefunden werden. Auch die kommende schwedische Ratspräsidentschaft habe wieder ambitionierte Pläne. "Doch das Programm von Stockholm kann mir gestohlen bleiben, wenn es nicht in die Tat umgesetzt wird", schimpfte Plasschaert.
Zwei andere Gesetze, die überarbeitet werden sollen, befassen sich mit der Fingerabdruck-Datenbank Eurodac und dem neu zu schaffenden Unterstützungsbüro für Flüchtlingsfragen. Diese Agentur soll dafür sorgen, dass die europäische Gesetzgebung rascher national umgesetzt und korrekt angewandt wird. Kommissar Jacques Barrot beendete die Debatte mit einem leidenschaftlichen Appell: "Man darf das Asylpaket nicht dem Wahlkampf opfern! Europa hat doch selbst erlebt, was Verfolgung bedeutet! Ich möchte nicht zu idealistisch sein, aber wir sollten doch unseren Werten treu bleiben." Ob seine Worte gehört werden, wird er wohl nicht mehr aus der Nähe verfolgen können. Im Ministerrat ist das Paket bislang umstritten. Verhandelt werden soll es erst nach der Europawahl im Juni.