Kriminalität
Jürgen Roths faktenreiches Buch über die Mafia in Deutschland schießt übers Ziel hinaus
Jürgen Roth ist ein investigativer Journalist. Mehr noch: Er ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten investigativen Journalisten Deutschlands. Sozusagen eine Koryphäe des Genres. Gerade deswegen kommt man beim Lesen seines Buches "Mafialand Deutschland" nicht umhin, sich zu fragen, was denn nun in den Autor gefahren ist. "Mafialand Deutschland" liest sich ungefähr so, als hätte ein Recherche-Professor an einer Journalistenschule das Informationsmaterial aus lebenslangen Forschungen zum Themenkomplex Mafia in ein Konvolut gepackt und dieses den Studenten auf den Tisch geknallt. Mit dem Aufforderung: "Da habt ihr das ganze Info-Material. Mal sehen, was ihr daraus macht!"
Daraus ließe sich mit Sicherheit einiges machen, mit Sicherheit mehr als eine einzige skandalträchtige Story. In "Mafialand Deutschland" findet sich alles, was über die Aktivitäten der italienischen und russischen Mafias in Deutschland, über die einzelnen hierzulande tätigen Mafia-Angehörigen, ihre Handlanger und ihre vermutlichen Komplizen, über Stasi- und KGB-Seilschaften in den neuen Bundesländern, über Korruptionsfälle und Betrügereien im Zusammenhang mit der Treuhandanstalt und der Privatisierung von Energiebetrieben im ostdeutschen und osteuropäischen Raum ermittelt worden ist. Nur dass Roth es aus unerfindlichen Gründen versäumt hat, diese ungeheuerliche Masse an Informationen - von der formalen Einteilung in Kapitel abgesehen - in eine nachvollziehbare Ordnung zu bringen. So ist es ein Graus, sich durch den Wust von aneinander gereihten Zitaten, Auszügen aus Ermittlungsberichten, Staatsanwälte- und Politiker-Aussagen, Namen, Daten, Zahlen, Zeitungs- und Verhaftungsmeldungen hindurchzuarbeiten.
Erkennbar ist zumindest, dass Roth ein überaus ehrenhaftes Ziel verfolgt: den deutschen Lesern klar zu machen, dass die Mafia kein ausschließliches Problem Italiens oder rückständiger Regionen der Welt ist, dass sie sich schon längst in Deutschland, Österreich und anderen Ländern etabliert hat, und dass sie hier gerade wegen der mangelnden öffentlichen Wahrnehmung des Problems ihren Geschäften fast ungestört nachgehen, blühen und gedeihen kann.
In der Tat klagen italienische Antimafia-Staatsanwälte seit Jahrzehnten darüber, dass unzählige Ermittlungen gegen Mafiosi, Mitglieder der kalabrischen N'drangheta oder der sizilianischen Cosa Nostra, die sich in Deutschland niedergelassen haben, versanden, weil bestimmte Ermittlungsmethoden - das Abhören unbescholtener Mitbürger etwa - von deutschen Staatsanwaltschaften nicht genehmigt werden. Das liegt aber nicht an einer Komplizenschaft deutscher Politiker und Bürokraten mit den alle Entscheidungsträger korrumpierenden ausländischen Verbrechern, wie Roth in seinem Buch suggeriert, sondern in erster Linie daran, dass Datenschutz und Persönlichkeitsrechte in der deutschen Gesellschaft einen höheren Stellenwert genießen als in Italien. Und so selbstverständlich wie in Kalabrien ist auch nicht überall, dass jemand, der einen bestimmten Nachnamen trägt und bestimmte Vorfahren hat, qua Blutsbande dazu verdammt ist, lebenslang Mitglied einer kriminellen Organisation zu sein und deshalb abgehört werden darf.
Um ihren nordeuropäischen Kollegen den kulturellen Humus zu erklären, der die Handlungsweise der nun weltweit operierenden süditalienischen Mafia-Organisationen immer noch bestimmt, mussten italienische Staatsanwälte und Ermittler viele Vorträge und Seminare halten. Ein Umstand, den Roth einfach beiseite wischt. Genauso wie er von Unterschieden zwischen den Mafia-Organisationen untereinander und zwischen Mafia und dem wirtschaftspolitischen System Deutschlands nichts wissen will.
Die neue globale Mafia, ob sie aus Kalabrien, Sizilien oder der ehemaligen Sowjetunion stammt, ist wie ein Wirtschaftsunternehmen erst einmal auf Gewinnmaximierung aus und in legalen Wirtschaftszweigen tätig. An der Oberfläche verhält sie sich nicht anders als ein normaler Konzern. Während wiederum "normale" Wirtschaftsunternehmen auf der globalen Skala zunehmend kriminell und mafiös handeln: Korruption, Schmiergelder, Mauscheleien, Einfluss auf die Politik, Unterwanderung der politischen Institutionen sind im Wirtschaftsleben gängige Praxen.
Auch Deutschland ist, wie etliche Schmiergeld- und Korruptionsskandale inzwischen bewiesen haben, offenbar nicht gefeit gegen die mafiose Kultur der Korruption. Bis dahin kann man Roth - wenn auch immerzu über seine Faktenanhäufung stolpernd - durchaus folgen, gar zustimmen.
Wo er aber das vermeintlich "mafiose" wirtschaftspolitische System Deutschlands der Mafia im ursprünglichen Sinne, das heißt der süditalienischen Mafia und der organisierten Kriminalität osteuropäischer Prägung gleichstellt, möchte man dem Autor einen langjährigen Aufenthalt in Reggio Calabria oder Moskau spendieren. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob man in einem Land lebt, in dem jeder, dem Unrecht geschieht, ungefährdet Anzeige erstatten kann, oder auf einem Erdenfleck, wo der schlichte Akt der Anzeige-Erstattung schon als Heldentat gelten und manchmal gar als Selbstmordversuch angesehen werden kann. Freilich lässt sich ein solcher Unterschied den gesammelten Ermittlungsakten nicht entnehmen.
Mafialand Deutschland.
Eichborn Verlag, Berlin 2009; 320 S., 19,95 ¤