kloster mor gabriel
Nachbarschaftsstreit in der Südosttürkei eskaliert zum Religionskrieg
Schwalben tschilpen bei der morgendlichen Andacht in der Kapelle von Sankt Gabriel in Südostanatolien. Hoch über dem Kopf eines schwarzbärtigen Mönches schießen sie eifrig hin und her, tauchen durch die rundgemauerten Bogenfenster aus dem Sonnenlicht hinein in die halbdunkle Kapelle und begleiten den sonoren Gesang des Mönches mit ihrem hellen Zwitschern. Ansonsten herrscht Stille im Kloster Sankt Gabriel. Die Nonnen rühren in der Klosterküche den Weizengrieß für das Mittagessen, der Bischof brütet in seinem Amtsraum, die Klosterschüler pauken in Seminarräumen mit ihren Malfone genannten Lehrern das aramäische Alphabet, und die Schwalben haben die weitläufigen Innenhöfe und Freitreppen des Klosters für sich. In der Ferne ist das Blöken einer Schafherde zu hören, die auf der Landstraße in Richtung Irak vorbeigetrieben wird.
Seit mehr als eineinhalb Jahrtausenden hat sich am Leben hier in einem der ältesten christlichen Klöster der Welt nicht viel mehr geändert, als dass der Sekretär des Bischofs jetzt auf einem Laptop herumtippt. Doch die Ruhe und den Frieden, die über dem Kloster und den sanften Hügeln ringsum zu liegen scheinen, vermögen die Klosterbewohner derzeit nicht zu spüren. Immer wieder schlurft Bischof Timotheos aus seinem Amtsraum und wandelt, rastlos, türenknallend durch das Kloster. "Wir einheimischen Christen sind besorgt", sagt sein Sekretär Can Gülten und klappt seinen Laptop zu. Und nicht nur sie: Von den kurdischen und arabischen Dörfern in Sichtweite des Klosters über Ankara bis in die Hauptstädte von Westeuropa reicht die Besorgnis um einen Grundstücksstreit, der seit einem dreiviertel Jahr fern hinten in der Türkei eskaliert.
"Ganz Europa stürzt sich da drauf", wundert sich Ismail Erkan, der Ortsvorsteher eines arabischen Nachbardorfes. Der Gehstock, auf den sich der massige Mittfünfziger stützt, steckt im schlammigen Weg zwischen Lehmziegelhütten und bröckelnden Betonbaracken; magere Hühner scharren im Dreck. Yayvantepe heißt der Ort, er liegt knapp drei Kilometer vom Kloster entfernt und ist eine von einem halben Dutzend Konfliktparteien in dem Streit um Sankt Gabriel. Ein Streit, der indirekt von Europa ausgelöst worden ist: Seit im vergangenen August die Landvermesser auftauchten, um Grundbücher nach EU-Standard anzulegen, ist der Landfrieden hier dahin. Mit dem Ergebnis der Grenzvermessungen waren nämlich weder das Kloster noch die umliegenden Dörfer einverstanden. Um ein paar Hektar steinigen Boden streiten sich seither das Kloster, das arabische Dorf Yayvantepe, die kurdischen Dörfer Eglence und Candarli, das türkische Schatzamt und die Forstbehörde.
Ausgefochten wird der Streit vor den Gerichten in der Kreisstadt Midyat, der wohl multikulturellsten Stadt der Türkei. Ein aus Kalkstein gemeißelter Obelisk an der Ortseinfahrt zeigt auf der einen Seite das Stadtwappen, auf den anderen drei Seiten eine Kirche, eine Moschee und den Pfauenengel der Jesiden: Die Kleinstadt ist stolz darauf, dass alle drei Religionen hier zusammenleben. Viele alteingessenene Einwohner sprechen ganz selbstverständlich vier Sprachen: Kurdisch, Türkisch, Aramäisch und Arabisch. Einer von ihnen ist Rudi Sümer, der junge Rechtsanwalt, der das Kloster Sankt Gabriel in dem Streit vertritt.
In seinem Büro in einer Passage am Marktplatz breitet Sümer seine Argumente aus. Die Grenzen des Klosters, so illustriert der 27-Jährige mit alten Urkunden, Dokumenten und Luftbildern, seien seit 1938 aktenkundig und 1950 noch einmal behördlich bestätigt worden; obendrein zahle das Kloster seit Jahrzehnten regelmäßig Steuern für dieses Land. Zu Unrecht hätten die Landvermesser deshalb dem Drängen der umliegenden Dörfer nachgegeben und die Grenzen mitten zwischen Kloster und Dörfern gezogen, wodurch ein Teil des klösterlichen Landes an die Dörfer fiel. Das Kloster legte Einspruch beim Katastergericht ein, scheiterte damit und klagte dann vor dem Bezirksgericht. Die Dörfer reagierten mit einer Strafanzeige, das Kloster habe sich staatlichen Wald einverleibt, was wiederum das Schatzamt und die Forstbehörde aufmerken ließ. Inzwischen laufen gleich drei Prozesse vor dem Bezirksgericht, dem Amtsgericht und dem Katastergericht.
Ein buntes Gedränge herrscht an den Prozesstagen vor dem Justizgebäude von Midyat, denn die Schaulustigen kommen von Nah und Fern: aus den aramäisch-christlichen Dörfern der Umgebung ebenso wie aus der aramäischen Diaspora in Westeuropa, wo heutzutage weit mehr Christen aus der Südosttürkei leben als hier in der nach dem Berg benannten Gegend Tur Abdin, einem der ältesten christlichen Landstriche der Welt. Bei den Massakern an den Armeniern vor knapp 100 Jahren schon dezimiert, wanderten die meisten Aramäer in den vergangenen Jahrzehnten aus - auf der Flucht vor Armut, vor Diskriminierung und vor dem Krieg zwischen kurdischen Rebellen und türkischer Armee, in dem sie zwischen die Fronten geraten waren.
Zwar hat inzwischen eine vorsichtige Rückkehrbewegung eingesetzt, in der aramäische Familien und Dorfgemeinschaften aus Deutschland, Schweden und der Schweiz auf den Tur Abdin zurückkehren und ihre vom Krieg zerstörten Dörfer wieder aufbauen. Prächtige Villen, die den aramäischen Baustil mit europäischem Komfort verbinden, wachsen in den Christendörfern aus der verbrannten Erde - regelrechte Villenviertel mit bereits mehr als 100 solcher Eigenheime. Die Provinzregierung unterstützt die Rückkehrer mit Stromleitungen und Straßenbau, der Gouverneur erscheint zur Einweihung restaurierter Kirchen in den Rückkehrerdörfern, und der Staat fördert die Weinfabrik eines christlichen Rückkehrers mit Krediten.
Der Großteil der Diaspora bleibt aber misstrauisch gegenüber den Versicherungen der türkischen Regierung, die Rückkehrer seien willkommen. "Rettet das Kloster Mor (Sankt) Gabriel, rettet das Christentum in der Türkei", fordern ihre Angehörigen bei Demonstrationen in Deutschland: In dem Grundstücksstreit sehen sie einen Versuch, dem Kloster die Existenzgrundlage zu entziehen und die letzten Christen aus ihrer angestammten Heimat zu vertreiben. Die Klostergemeinde verweist auf die Strafanzeige eines kurdischen Schafhirten aus dem Dorf Eglence, der den Bischof der "Besatzung und Ausplünderung" beschuldigte, und auf Gerüchte in den umliegenden Dörfern, wonach das Kloster missioniere oder die kurdischen PKK-Rebellen unterstütze. "Was als Streit um Ländereien begonnen hat, wird von unseren Nachbarn inzwischen leider auf die Ebene der Religion gezerrt", klagt der Sekretär des Bischofs.
Auf dem staubigen Platz vor der Dorfmoschee von Yayvantepe sieht der Fall anders aus. "Wir haben überhaupt nichts gegen die Christen", empört sich ein alter Mann in rot-weißer Keffiyeh, "aber sie tun uns Unrecht." Schnell ist ein Knäuel von gestikulierenden Männern vor der Moschee zusammengelaufen. "Das Kloster hat doch angefangen mit den Prozessen, die sind doch gegen uns vor Gericht gegangen", sagt einer von ihnen, "da haben wir sie eben auch verklagt, das ist nur ehrenhaft." Ein hakennasiger Bursche zeigt mit ausgestrecktem Arm hinter sich in die Hügel: "Da hinten das Christendorf, da bauen sich christliche Rückkehrer gerade neue Häuser", sagt er. "Da arbeiten wir auf dem Bau mit und helfen. Würden wir das tun, wenn wir etwas gegen sie hätten?" Aufgeregt rufen die Männer durcheinander, bis keiner mehr zu verstehen ist.
Ortsvorsteher Ismail Erkan lässt sich auf einen Hocker sinken, stützt die Unterarme auf die Knie und beugt sich vor. "Bei uns ist das so", sagt er, "wenn es bei uns Streit gibt zwischen zwei Stämmen oder zwei Dörfern, dann ist es Brauch und Sitte, dass ein Vermittler die beiden Seiten zusammenführt und sie versöhnt." Zweimal seien die Ortsvorsteher der Dörfer zum Kloster gegangen, um eine Vermittlung vorzuschlagen. "Aber das Kloster wollte das nicht", erzählt er. Dass die Klostergemeinde stattdessen vor Gericht ging, das nehmen die Männer auf dem Dorfplatz ihr übel. "Warum brauchen die eigentlich hunderte Hektar Land zum Beten?", fragt ein alter Bauer und klopft an die krümelnde Mauer der Dorfmoschee. "Uns genügen ja auch ein paar Quadratmeter für den Gottesdienst."
Das Klima auf dem Tur Abdin ist inzwischen gründlich vergiftet. Seit Dezember ziehen sich die Gerichtsverfahren hin. "Wir glauben an Recht und Gerechtigkeit und sind guter Hoffnung, dass die Gerichte sich auf die Fakten und Dokumente stützen und ein gerechtes Urteil fällen werden", sagt Can Gülten, der Sekretär des Bischofs. "Bei aller Sorge tröstet uns das doch." Aufmerksam werden die Verfahren auch von Westeuropa aus verfolgt, wo die meisten türkischen Aramäer heute leben; die europäischen Botschaften in Ankara entsenden Prozessbeobachter zu den Verhandlungen, um sich zu vergewissern, dass die Gerichte korrekt arbeiten.
Um den Christen des Tur Abdin den Rücken zu stärken, geben sich zudem Politiker und Abgeordnete aus Deutschland und anderen europäischen Ländern noch während des laufenden Gerichtsverfahrens bei Solidaritätsbesuchen im Kloster die Klinke in die Hand - was wiederum die moslemischen Dörfler erbittert. "Was die hier alle wollen, verstehe ich nicht", sagt Ortsvorsteher Erkan. Das Kloster bekomme natürlich christliche Schützenhilfe aus Europa, murren die Männer vor der Moschee.
Auch die türkische Regierung spürt den kritischen Blick der Europäer. "Wir wollen das Problem nicht zur internationalen Krise werden lassen", verlautete jüngst aus der Regierungspartei AKP: Ministerpräsident Erdogan habe das Schatzamt und das Forstministerium angewiesen, eine gütliche Einigung mit dem Kloster zu finden. Ein örtlicher AKP-Abgeordneter bemüht sich inzwischen, die Dörfler zum Rückzug ihrer Anzeige zu bewegen. Und auch der Provinzgouverneur soll Order bekommen haben, das Problem schleunigst aus der Welt zu schaffen. Ob es zu einer solchen politischen Einigung kommt oder doch noch zum Gerichtsurteil, das Anwalt Rudi Sümer vom Kloster notfalls bis zum Menschenrechtsgerichtshof nach Straßburg tragen will - eines wird auf dem Tur Abdin jedenfalls bleiben vom Streit um Sankt Gabriel. "Wir gehen jetzt nicht mehr ein und aus beieinander", sagt Ismail Erkan. "Zwischen uns herrscht jetzt Kälte."