INTERPARLAMENTARISCHE UNION
Die Organisation der Parlamente der Welt wird 120 Jahre alt
Die Medien sind derzeit voll von Rückblicken und Bewertungen, in Chroniken präsentieren sie die Entwicklungen und Ereignisse in der nunmehr 60-jährigen Bundesrepublik. Von einem anderen runden Geburtstag ist dagegen kaum die Rede. Obwohl der "Jubilar" bereits doppelt so alt ist, Krieg und Frieden erlebt, die rasanten Veränderungen global begleitet und im Hintergrund beharrlich an einer besseren Welt gearbeitet hat: Die Interparlamentarische Union, kurz IPU, die Gemeinschaft der Parlamente der Welt, ist am 29. Juni 120 Jahre alt geworden.
Miteinander reden statt aufeinander schießen, Gespräche statt Gefechte - diese Leitgedanken, die angesichts Hunderter von Kriegen nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben, standen am Anfang der interparlamentarischen Initiative. Dem englischen Gewerkschafter William Randel Cremer und dem französischen Pazifisten Frédéric Passy schwebte ein Forum vor, das auf eine von allen anerkannte Schiedsgerichtsbarkeit hinauslaufen sollte - ein Instrument zur Kriegsverhinderung. So wie im nationalen Rahmen Konflikte in parlamentarische Bahnen gelenkt und verbindlich entschieden wurden, sollte zwischen den Staaten vom 29. Juni 1889 an eine "interparlamentarische Union für internationale Schiedsgerichtsbarkeit" sorgen.
Zwei verheerende Weltkriege und viele weitere Kriege und Konflikte konnte die IPU während ihrer langen Geschichte zwar nicht verhindern. Doch ihr Kernanliegen, ein Forum für Verständigung, Frieden und Sicherheit zu bieten,verfolgt sie bis heute. Eine ganze Reihe weiterer Schwerpunkte sind hinzugekommen: Die Beachtung der Menschenrechte weltweit, die Förderung von Bildung, Wissenschaft und Kultur, der Aus- und Aufbau repräsentativer Demokratien und nicht zuletzt die Teilhabe der Frauen an politischen Diskussionen und Entscheidungen. Für ihre eigene Arbeit hat sich die IPU einen einfachen aber wirkungsvollen "Trick" einfallen lassen: Die Delegationen der 154 Parlamente aus aller Welt haben nur dann volles Stimmrecht, wenn ihnen jeweils mindestens eine Frau angehört. Das ist für manchen islamischen Staat mitunter eine Herausforderung.
Auch der Alltag am Rande der zweimal jährlich stattfindenden Konferenzen ist durchaus geeignet, den einen oder anderen "Kulturschock" auszulösen, wie sich Bodo Ramelow (Die Linke) als Mitglied der achtköpfigen deutschen Delegation erinnert. Als die iranischen Abgeordneten wegen ihres mal wieder in die Kritik geratenen Präsidenten den Dialog mit den Deutschen suchten, baten diese ihre stellvertretende Delegationsleiterin, die SPD-Abgeordnete Monika Griefahn nach vorne: "Damit taten sich die iranischen Männer entsprechend schwer", berichtet Ramelow.
Tatsächlich sind bei den Konferenzen immer mehr Frauen zu sehen. "Allein dafür lohnt sich schon die Arbeit", lautet ein Resümee von Griefahn. Dies gilt um so mehr, als in jede Konferenzplanung eine eigene Frauen-Tagung integriert ist, bei der Parlamentarierinnen aus aller Welt ihre Erfahrungen austauschen und wichtige Handlungsoptionen weitergeben können.
Es gibt große Momente wie der in IPU-Kreisen lebhaft in Erinnerung gebliebene Auftritt von Norbert Lammert (CDU), dem Leiter der deutschen Delegation. Der Bundestagspräsident wechselte sich in seiner Rede Satz für Satz ab mit dem französischen Parlamentarier Robert del Picchia. Beide machten klar, wie aus einer "Erbfeindschaft" eine funktionierende Freundschaft und Partnerschaft gewachsen ist. Sie erwähnten die großen Kriege mit ihren furchtbaren Folgen und zeigten die daraus gewonnene Botschaft: "Erstens: Versöhnung ist nötig, zweitens: Versöhnung ist möglich." Die IPU selbst kann immer wieder Ort von unbemerkten Verständigungsprozessen sein. Denn Parlamentarier haben gegenüber Diplomaten einen Vorteil: Wo offizielle Regierungsvertreter die Form wahren und auf kleinste Signale achten müssen, können sich Abgeordnete unterhalb der formellen Linien der Diplomatie am Rande der IPU-Kongresse treffen, Hinweise geben, Einschätzungen erbeten und so ganz diskret bestehende Konflikte lösen oder entstehende Konflikte vermeiden helfen.
Bei ihren Konferenzen spüren die Delegationen immer wieder auch Entwicklungen in Regionen der Welt, die ansonsten im Bewusstsein der öffentlichen Meinung wenig präsent sind. So findet es Philip Josef Winkler (Bündnis 90/Die Grünen), Mitglied der deutschen Delegation, "hochinteressant", wer in Diskussionen den Ton angibt und wer von den Nachbarn als "Player" im Machtspiel akzeptiert wird. Das können durchaus Abgeordnete aus Staaten sein, die in der internationalen Politik etwa wegen "inakzeptabler" Regime zumeist beiseite geschoben werden. Winkler sitzt bei den IPU-Versammlungen im Redaktionsausschuss und hat die Aufgabe, aus verschiedenen Anträgen und Einsprüchen allgemein zustimmungsfähige Resolutionen zu machen.
Naturgemäß ist das Verfahren in der IPU darauf angelegt, Spitzen zu vermeiden, damit über alle politischen Frontstellungen hinweg Einigungen erzielt werden können. Beispiel Dringlichkeitsthemen: Zur 120. IPU-Versammlung vom 5. bis 10. April dieses Jahres in Addis Abeba wollte Indien den grenzüberschreitenden Terrorismus auf die Tagesordnung setzen, der Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate verlangten, die israelische Militäraktion im Gaza-Streifen zu verurteilen. Als die Konferenz eröffnet wurde, hatten sich die Delagtionen schon darauf verständigt, die Auswirkungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise auf Afrika in den Mittelpunkt zu rücken.
Dass man in der IPU daher häufig einen langen Atem braucht, illustriert etwa die Zusammensetzung des Komitees für Menschenrechte. Die FDP-Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist darin Mitglied, außerdem Parlamentarier aus Kanada, Mexiko, Algerien, Belgien, den Philippinen, Chile, Ghana, Frankreich und dem Iran. Zwar erhalte das Anliegen der Menschenrechte durch die globale Unterstützung in der IPU eine "ganz andere Durchschlagskraft", stellt die Politikerin fest, insbesondere was die Initiative "Parlamentarier schützen Parlamentarier" (siehe unten stehenden Text) anbelangt. Doch weiß Leutheusser-Schnarrenberger auch: "Menschenrechtsarbeit ist mühsam und langwierig."
Verschiedene Strukturen sind im Laufe der 120 Jahre aufgebaut worden, um die Gemeinschaft der Parlamente nicht im Chaos versinken zu lassen. An der Spitze steht ein jeweils für drei Jahre gewählter Präsident - derzeit ist das der frühere namibische Regierungschef Theo-Ben Gurirab. Er lädt beispielsweise Experten zur Einschätzung der Weltwirtschaftskrise an den IPU-Sitz nach Genf oder versucht bei einer Nahostreise das Terrain für Verständigungen zu sondieren.
Ein Exekutivausschuss, ein Koordinierungsausschuss und der Rat der IPU unterstützen den Präsidenten. Drei ständige Ausschüsse sind eingerichtet, um sich um "Frieden und Internationale Sicherheit", "nachhaltige Entwicklung, Finanzen und Handel" und um "Demokratie und Menschenrechte" zu kümmern. Nach wie vor steht die Konferenz der Mitgliedsländer im Mittelpunkt, die einmal jährlich im Frühjahr rund um den Globus wechselt und jeweils im Herbst ein weiteres Mal in Genf zusammentritt. Deutschland war bereits fünfmal Gastgeber.
So wie im Bundestag die Landesgruppen für die Organisation der regionalen Interessen wichtig sind, haben sich auch innerhalb der IPU sechs geopolitische Gruppen gebildet, in denen politische Vorstellungen gebündelt und die Auftritte bei den Konferenzen koordiniert werden. In der afrikanischen Gruppe etwa arbeiten 42 Parlamente zusammen, in der arabischen 17 und in der Gruppe mit Mitgliedern und Nachbarn der EU weitere 45 Parlamente.
1889, im Gründungsjahr der IPU, kannte die Welt keinen Völkerbund, geschweige denn die Vereinten Nationen. 120 Jahre später schickt sich die Interparlamentarische Union an, die Kooperation mit der UNO immer mehr zu vertiefen und die Vision einer "parlamentarischen Dimension" der Vereinten Nationen mit Leben zu erfüllen. Das mag nicht spektakulär klingen. Aber wenn es, wie auch die deutsche IPU-Delegation unterstreicht, das Eskalieren von Konflikten im Stillen verhindern hilft, ist es alle Mühen wert.