Wiedervereinigung
Vor 50 Jahren ging das Saarland mit der Bundesrepublik wirtschaftlich zusammen
Nun, der Streik gegen überhöhte Bierpreise bricht schon nach wenigen Tagen zusammen. In zahlreichen Dörfern an der Saar rufen nach der Einführung der DM und der Ablösung des französischen Franken erboste Tresenfreunde zum Kneipenboykott auf: Wirte nutzen die Gunst der Stunde und setzen die Preise um satte 15 Prozent herauf. Eigentlich sind die Gastronomen gehalten, nach offiziellem Kurs 100 Franken in 85 Pfennige umzurechnen. Doch 1:100 kalkuliert sich leichter, und es springt ein Extragewinn heraus. Aber die Leute merken den Schwindel. Indes bleibt der "Bierstreik" nur eine Anekdote in der Regionalgeschichte: Abstinenz und Askese sind den lebenslustigen Saarländern doch eher fremd.
Am 5. Juli 1959, dem legendären "Tag X", wird der zuvor ins französische Wirtschafts- und Währungssystem integrierte Winkel im Südwesten mit der Bundesrepublik ökonomisch wiedervereinigt. Freilich ist die ersehnte Rückkehr, der am 1. Januar 1957 nach Zustimmung durch den Bundestag der politische Anschluss vorangegangen war, mit Ärger verbunden. Auf Wochenmärkten schimpfen Hausfrauen über das plötzlich so teure Obst und Gemüse. Schon am 9. Juli organisieren die Gewerkschaften eine Protestaktion: "Preistreiber an den Galgen" steht auf einem Plakat. Kanzler Konrad Adenauer (CDU) schickt Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU) auf Beschwichtigungstour in das aufgewühlte Land. Die "kleine Wiedervereinigung" vor 50 Jahren ist einer breiten Öffentlichkeit kaum mehr ein Begriff. Vermutlich wird auch der Auftritt Angela Merkels am 6. Juli bei einer Jubiläumsveranstaltung in Saarbrücken an diesem Umstand nicht viel ändern. Dabei bietet sich die seinerzeitige Zäsur als Lehrstück dar. Während 1990 die Wirtschafts- und Währungsunion vom Juli Pflöcke für die politische Einheit im Oktober einrammen sollte, läuft es an der Saar umgekehrt: Die ökonomische Integration erst eineinhalb Jahre nach der politischen Vereinigung soll der Saar-Wirtschaft einen sanften Übergang in die starke DM-Zone ermöglichen - so die Hoffnung.
Nach dem Krieg ist die Saar zunächst französische Besatzungszone. Von 1947 an wird das Land in die französische Wirtschaft integriert, die Außenpolitik obliegt Paris, im Innern hat die Regierung von Johannes Hoffmann unter der Aufsicht eines französischen Kommissars eine gewisse Autonomie. Dieses Provisorium soll 1955 durch ein von Adenauer mit Paris ausgehandeltes Saar-Statut abgelöst werden: Unter dem außenpolitischen Regime der Westeuropäischen Union soll das Saarland endgültig von Deutschland getrennt werden, in der Wirtschaftsunion mit Frankreich verbleiben und im Innern autonom sein. Mit Zwei-Drittel-Mehrheit lehnen die Saarländer im Oktober 1955 diese Regelung jedoch ab, worauf sich Bonn und Paris auf die Vereinigung der Saar mit der Bundesrepublik Deutschland verständigen.
Nach der unspektakulären politischen Integration 1957 liegt über dem "Tag X" viel Spannung. Bis zuletzt bleibt das Datum geheim. Am Sonntag, den 5. Juli 1959, heben sich dann die Schlagbäume an der Zollgrenze zu Rheinland-Pfalz: Lastwagen transportieren unter dem Schutz bewaffneter Uniformierter 580 Millionen Mark zu den Banken für den am 6. Juli beginnenden Umtausch. An diesem Sonntag werden Bankangestellte zum Dienst gerufen, um die Wechselaktion vorzubereiten, in Kaufhäusern versieht das Personal die Schaufenster mit DM-Preisschildern.
Zügig tauchen deutsche Waren auf. Als erste wollen fliegende Händler aus dem "Reich", wie es damals heißt, den Leuten so wichtige Dinge wie Kugelschreiber, Kämme oder Gedenkblätter zum Tag X andrehen. Mit mäßigem Erfolg: Die Saarländer lebten trotz permanenter Frankenabwertungen zuvor nicht im Armenhaus. Auch hat man sich vor dem 5. Juli in Vorahnung der Teuerungswelle mit manchen bis dahin billigen Dingen eingedeckt: mit Genussmitteln wie Kaffee, Zigaretten und Spirituosen, mit Öl, Reis, Zucker. Trotz hoher Preise wird aber viel Geld in Möbel, Kühlschränke, Plattenspieler, Fernseher und Radios investiert, die es in dieser Qualität zuvor nicht gab.
Der Verkauf solcher Produkte aus dem "Reich" hat eine Kehrseite: Viele kleine und mittelständische Betriebe sind diesem Druck nicht gewachsen, haben zu kämpfen oder müssen gar aufgeben. Getroffen wird etwa die heimische Möbelindustrie. Auch der "sanfte" Übergang mit eineinhalbjähriger Verzögerung, in dessen Verlauf etwa die Zölle für Investitionsgüter sinken, vermag solche Brüche nicht zu vermeiden. Die Saar-Wirtschaft, seit Kriegsende auf Frankreich ausgerichtet, ist weniger produktiv als die deutsche Konkurrenz. Zudem macht Ende der Fünfziger der an der Saar besonders bedeutsame Bergbau seine erste Krise durch.
Freilich bleibt der Arbeitsmarkt intakt: Bei der Wiedervereinigung profitiert das Saarland von der damaligen Hochkonjunktur, Beschäftigungsverluste werden durch neue Jobs andernorts aufgefangen. Ein Jahr nach dem Tag X hat sich die Zahl der Arbeitsplätze an der Saar kaum vermindert. Freilich verdeckt der allgemeine Aufschwung bis Mitte der Siebziger, dass das Land trotz diverser Neuansiedlungen etwa im Autosektor in hohem Maße von der Montanindustrie abhängig bleibt. Der einsetzende Strukturwandel macht der Region bis heute zu schaffen, die Überschuldung des Landesetats wurzelt auch in alten Montanlasten.
All das ist am Tag X noch weit weg. Ärger verursachen damals nicht nur hohe Preise, sondern auch Kämpfe um den "sozialen Besitzstand". Zahlreichen Familien, Kriegsopfern und Rentnern geht es nach der Wiedervereinigung erst einmal schlechter: An der Saar lagen zuvor viele Sozialleistungen über dem deutschen Niveau. Ohne Verwerfungen vollzieht sich die historische Zäsur nicht.