Tschetschenien
Asne Seierstads bewegendes Buch über eine vom Krieg zerstörte Gesellschaft
Dutzende Menschen starben in den vergangenen Monaten bei Bombenanschlägen in der russischen Teilrepublik Tschetschenien, auch die Anzahl prominenter Entführungsopfer stieg spürbar an. Gefährlich leben vor allem Menschenrechtsaktivisten: Mitte Juli wurde Natalja Estemirowa, Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation Memorial, in Grozny verschleppt und kurze Zeit später in Inguschetien ermordet aufgefunden. Einen Monat danach entdeckte man die Leichen von Sarema Sajdulajewa, der Leiterin der tschetschenischen Hilfsorganisation "Rettet die Generationen", und deren Ehemann Alik Dschabrailow.
Neben Menschenrechtlern geraten ebenso Journalisten, die aus der Region kritisch über die Greueltaten berichten, zwischen die Fronten der gegnerischen Parteien. Weder die Truppen des moskautreuen tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow noch die Rebellen, die für einen unabhängigen islamischen Staat kämpfen, sind im Umgang mit ihren Gegnern zimperlich. Vor Ort zu recherchieren, verlangt neben Mut eine gehörige Portion Idealismus. Eigenschaften, die die norwegische Journalistin Asne Seierstad zu besitzen scheint.
Mehrmals reiste sie in der Vergangenheit -teilweise inkognito - in das von zwei Kriegen gezeichnete Land, erstmals 1995 zu Beginn des ersten Tschetschenienkrieges, zuletzt im Jahr 2007. Ihre Erlebnisse hat sie in ihrem zutiefst menschlichen Buch "Der Engel von Grozny" niedergeschrieben. Die mit internationalen Preisen ausgezeichnete Kriegsberichterstatterin berichtet von trauernden Müttern, deren Söhne als mutmaßliche Untergrundkämpfer in Geheimgefängnissen des Kadyrow-Clans zu Tode gefoltert wurden, ein andermal von traumatisierten Kindern. Gerade diese haben es der Journalistin angetan. Sie will zeigen, was aus den Kindern Tschetscheniens geworden ist. Dazu unterhält sich Seierstad auch mit dem "Engel von Grozny", einer kinderlosen Frau namens Hadisat, die ein Kinderheim gründete. Dort schenkt Hadisat den Mädchen und Jungen, Geborgenheit und Liebe, spendet Trost, gibt Hoffnung. Kurzum: Sie kümmert sich um ihre Schützlinge wie eine richtige Mutter.
Das gelingt allerdings nicht immer - zu schwer tragen die Kinder an ihrer Vergangenheit. Auch Timur. Nachdem sowohl die Eltern als auch die Großeltern gestorben waren, sollte sein Onkel Omar für ihn und seine Halbschwester sorgen. Statt Liebe schlägt beiden jedoch Hass entgegen. "Der Onkel benutzte Elektrokabel ohne Isolation. Nur der Handgriff hatte noch den Plastiküberzug. Er hielt die blanken Drähte über den Ofen, bis sie glühten und peitschte dann auf die nackten Rücken der Kinder, die mit angezogenen Knien nebeneinander auf dem Fußboden lagen." Kein Einzelschicksal, wie die Schilderungen der 1970 geborenen Journalistin beweisen. Ihre Erzählungen lassen keinerlei Zweifel, wie brutal es in Tschetschenien zugeht: "Ein süßlicher, stickiger Geruch lag über dem Gebiet. Die Leichen waren schwarz von Fliegen. Dicke, weiße Würmer krochen aus den Toten. Einige waren nackt, andere teilweise bekleidet, manche hatten um den Kopf gebundene Hemden, andere waren an den Händen gefesselt, einige waren ohne Arme, ohne Finger, mit zertrümmerten Schädel und Einschüssen im Körper." Mit diesen Worten beschreibt Seierstad, wie sie 1995 vor einem Massengrab bei Grozny steht und auf die Menschen blickt, die in jenen Leichenbergen nach vermissten Angehörigen suchen. Von diesen Passagen lebt das Buch. Auch die zahlreichen Gespräche Seierstads mit Kindern, Müttern, tschetschenischen Rebellen, russischen Soldaten oder Ramsan Kadyrow helfen, sich ein Bild von dieser total zerrütteten Gesellschaft zu machen.
Trotz ihres sachlich und nüchternen Tons übt Asne Seierstad mit ihrem "Engel von Grozny" deutlich Kritik am russischen Nationalismus und Rassismus ebenso wie an der tschetschenischen Tradition der Blutrache sowie dem Personenkult um Ramsan Kadyrow.
Der Engel von Grozny. Tschetschenien und seine Kinder.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2009, 411 S., 21,95 ¤