Kulturgeschichte
Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert aus musikalischer Perspektive. Der Kritiker Alex Ross hat ein Kompendium vorgelegt, das das Hören neu lehrt
Anderthalb Jahre nachdem das Stück begonnen hatte, folgte der erste Ton: Gis-h-gis. Wie verblüfft man war, als 2001 in Halberstadt, am Rande des Harzes, John Cages Orgelstück "Organ 2/ASLSP" anfing - Stirnrunzeln, feuilletonistisches Fieber, alles war dabei. Töne und Pausen, die mehrere Monate, ja Jahre andauern würden, voraussichtliches Ende der Aufführung im Jahr 2639. Cages Vorgabe: Das Stück sei "so langsam wie möglich" zu spielen.
John Cage, sein Verständnis von Musik und Bewegung, lernt besser verstehen, wer sich die Choreographien seines Partners, dem Tänzer Merce Cunningham, anschaut, der im vergangenen Juli verstarb. Und wer seine Liebe zu Lärm und Lärmähnlichem nachvollziehen will - und erkennen will, wie sich Cage in das Gefüge der klassischen Musik des vergangenen Jahrhunderts einfügt, wie er mit seinen expressionistischen Avantgardekompositionen die Stimmung seiner Zeit spiegelte, dem sei ein Band voller Lärm empfohlen: "The Rest is Noise" des US-Amerikaners Alex Ross lehrt einen neu zu hören.
Kurz: Das Buch ist phänomenal. So und nicht anders muss über Musik geschrieben werden. Alex Ross nimmt einen mit, und zwar mittenrein zwischen die Akkorde, Bassschlüssel und Melodielinien. Er ist in der Lage, etwas derart Flüchtiges wie Töne aus dem zeitgeschichtlichen Kontext heraus zu erklären, in dem sie entstanden sind. Ein Glücksfall - und zwar definitiv nicht nur für die üblichen Verdächtigen. Auch wer sich Musik sonst eher auswählend nähert, aber ein Faible dafür hat, Kunstwerke in ihren gesellschaftlichen und historischen Zusammenhängen zu begreifen, wer Einflüsse und Momente des Wandels nachvollziehen will, kann von "The Rest is Noise" nur profitieren. Wo sonst bekommt man erklärt, wie die Stücke der isländischen Sängerin Björk von Karlheinz Stockhausen oder den Orgel-Kompositionen von Oliver Messiaen inspiriert sind.
Mit einer geradezu überragenden Detailfreude stürzt sich Ross in die Materie und lässt so lebendig werden, was eigentlich längst versendet ist. Der Musikkritiker des Magazins "The New Yorker" versteht sich auf historische Reportage-Elemente, lässt die Leser mit Richard Strauss und Gustav Mahler in die Grazer Berge kraxeln, am Nachmittag vor der Uraufführung von Strauss' "Salome". Diese Szene setzt Ross an den Anfang seiner Musikchronologie. Denn an jenem 16. Mai 1906 war Graz der Nabel der Welt. Hier begann eine neue Zeitrechnung, und alle waren gekommen, ahnend, dass sie einem großen Moment beiwohnen würden; ein Gesumme und Gewusel sondergleichen muss die Stadt in diesen Tagen dominiert haben. Und in der Tat: Strauss lieferte mit "Salome" nichts weniger als jenes Stück, mit dem die Ära der Moderne in der Musik begann. Er brach mit der Operntradition, die auf Erhebendes, Klares, Volltönendes setzte. Stattdessen "Tumult" aus dem Orchestergraben, alles Gewohnte verrutscht: "Die Hörner spielen schnelle Figuren, die zu einem Heulen verschwimmen, die Pauken schlagen eine chromatische Vier-Ton-Folge, die Holzblasinstrumente kreischen in hohen Lagen." Die künstlerische Nähe zum Kubismus ist unübersehbar, unüberhörbar. "Im Grunde endet die Oper mit acht Takten Lärm."
Ross kehrt in seiner Musikgeschichte immer wieder auf den alten Kontinent zurück. Die Verbindungen aus europäischer Neutonklassik à la Schoenberg und Jazz spielen hier genauso eine Rolle wie, andersrum, die Aufbruchstimmung, die Deutschland zur "Stunde Null" nach Kriegsende beschwingte. Die Alliierten flogen Leonard Bernstein für ein Gastspiel ein, man wollte deutsche Musik fördern, die man für "heilsam" hielt. Strauss' Kompositionen hingegen galten als "gefährlich". Ferienkurse in einem Jagdschloss hoch über Darmstadt sollten deutsche Nachwuchskomponisten mit Musik vertraut machen, die unter den Nazis verboten war, etwa den Stücken Arnold Schoenbergs.
Schoenbergs revolutionäre Zwölftonmusik und seine Harmonielehre waren laut Ross Ausdruck einer moralischen Haltung. Seine Thesen gleichen nach Ross einer "Autopsie eines Systems, das nicht mehr funktioniert". Ein System, in dem alles, was nicht einer klaren Norm entsprach, "abnorm" war, "krank", "entartet" - eine Sprache, die später die Logik der Nationalsozialisten spiegeln sollte. Und Schoenbergs Ideen waren das Gegenteil, er warf das Geregelte über den Haufen. In seinen Klängen, seinen "entwurzelten Akkorden" mischte sich, was den normalen Harmonien nicht entsprach. Ein Minimalismus, eine Atonalität, die man mit geschultem Gehör in Jazz und Rockstücken wiederentdecken kann.
Natürlich weiß Ross, dass die bloße Nennung von Akkordfolgen, von Cis zu G, mit tritonalen Wendungen, nicht jedem reicht, um sofort eine Melodie im Ohr zu haben. Um mit Sprache etwas per se Unabbildbares wie Musik einzufangen, findet er bildliche Entsprechungen des Gehörten. Diese sprachliche Verspieltheit verzückt, nicht zuletzt wegen der pointierten akustischen Vorstellung, die er so hervorruft, sei es der "wie ein angezählter Boxer taumelnde Rhythmus von ‚Le Sacre du Printemps'" oder der "einen hinterrücks überrumpelnde Beat von Kenny Clarke".
Die Wucht dieses Werks reicht übrigens weit über die Buchdeckel hinaus. Alex Ross, wollte, dass seine Leser ganz konkret nachvollziehen können, wovon er schreibt. Und das, ohne die ganze Zeit im Plattenschrank kramen zu müssen. Als Lösung wird hier endlich ein crossmediales Konzept präsentiert, das so sinnvoll ist wie kaum etwas sonst, das Verlage in dieser Hinsicht schon versucht haben: Parallel zum Buch gibt es die Internetseite "www.therestisnoise.com", auf der, mal kürzer, mal länger, jene Musikbeispiele zum Anhören zur Verfügung stehen, die er in seinen Kapiteln minutiös analysiert. Auf der Homepage findet sich außerdem ein umfangreiches Glossar um Thema, ebenso wie Verweise auf neue Soundschnipsel, die Ross in sein Blog packt. Leider: Die iTunes-Liste, die er zum Mithören zusammengestellt hat, mit Titeln wie dem "Alabama-Song" von Kurt Weill und Lotte Lenya, über John Cages "Sonatas" bis hin zu Auszügen aus der Benjamin Britten-Oper "Ein Mittsommernachtstraum", ist von Deutschland aus nicht zugänglich.
Wer sich Stanley Kubricks Film "2001: A Space Odyssey" ansieht, wird nach diesem Buch die ersten und letzten Szenen ganz neu wahrnehmen. Kubrick hinterlegte die Eröffnungs- und Schlusssequenz mit dem berühmte Auftakt von Richard Strauss' "Also sprach Zarathrustra". Die Passage besteht aus Tönen, die den natürlichen Klanggesetzen folgen, Intervalle, die von Natur aus zueinander gehören, und Strauss lässt sie wie "die Farben des Regenbogens bei jeder angeschlagenen Saite durchschimmern". Die Melodie steigert sich in einen Rausch, dem natürlichen Zusammenhang der Töne sei Dank. Kosmische Musik - was sonst passte zur "Space Odyssey".
Alex Ross:
The Rest is Noise. Das 20. Jahrhundert hören.
Piper Verlag, München 2009, 704 S., 29,95 ¤