Parlamentarismus in Ungarn und Lettland 20 Jahre nach der Wende
Erfahrungen im Aufbau und der Sicherung des Parlamentarismus in Ungarn und Lettland standen im Mittelpunkt eines Forums, das die Deutsche Vereinigung für Parlamentsfragen am Mittwoch, 13. Mai 2009, in Berlin ausrichtete. Zoltan Balog, Mitglied des ungarischen Parlaments, und Martins Virsis, Generalinspektor im Außenministerium Lettlands, berichtetenaus ihren Ländern. Der Passauer Politikwissenschaftler Prof. Dr. Dr. Heinrich Oberreuter moderierte die Veranstaltung.
Es sei zu fragen, so der Moderator Prof. Dr. Dr. Heinrich
Oberreuter, ob man Lettland oder Ungarn als Beispiel für einen
konsolidierten Parlamentarismus sehen könne. Mit einer
Konsolidierung solle etwas bereits Bestehendes gefestigt oder
gesichert werden.
Der ungarische Abgeordnete Zoltan Balog ist Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte, Minderheiten, zivile und religiöse Angelegenheiten. Er antwortete mit einem Zitat des Soziologen und Politikers Ralf Dahrendorf: "Eine Verfassungsreform kann man in sechs Monaten erreichen, eine Wirtschaftsreform in sechs Jahren. Für eine Zivilgesellschaft aber braucht es 60 Jahre."
20 Jahre nach der Wende in Ungarn könne man sagen: "Der
Parlamentarismus in Ungarn ist eigentlich eine Erfolgsgeschichte."
Im Folgenden wolle er vor allem auf dieses "eigentlich" eingehen.
Seit 1989 sei die Verfassung 20 Mal geändert worden, jeweils
um eine parlamentarische Demokratie vorzubereiten oder umc
Institutionen parlamentarisch zu verankern.
Ein wichtiger Schritt dabei sei die Institution der Parlamentsbeauftragten gewesen – unter den vier Ombudspersonen seien inzwischen auch zwei Frauen. 1993 sei das Minderheitengesetz verabschiedet worden, das ein Selbstverwaltungssystem errichtet habe. Zudem sei die Unabhängigkeit der Richter und der Staatsanwaltschaft gestärkt worden.
Trotz all dieser Änderung bemerkte Balog selbstkritisch, dass
bis heute Streitpunkte geblieben seien: So sei die Frage des
Zwei-Kammer-Parlaments (bis jetzt noch eine Kammer) nicht
geklärt, ebensowenig die Fragen, ob der Präsident nicht
besser direkt gewählt werden soll und warum Minderheiten nicht
im Parlament vertreten sind. Außerdem sei der Status der
Gerichte noch offen. Jedoch betonte er hoffnungsvoll: "Der Eintritt
in die EU hat einen ganz neuen Gesetzesrahmen geschaffen."
Bei den Zielen der Transformation auf Verfassungebene seien vor allem zwei Aspekte wichtig. Zum einen die Wendesituation, die eine Teilung der Macht, eine Kontrolle und Balance zwischen den Parteien geschaffen habe, sodass keine Partei Übergewicht habe. Und zum anderen der Prozess der Regierbarkeit. Im Laufe des Transformationsprozesses habe eine Verschiebung vom Machtteilungsaspekt hin zu der Frage der Regierbarkeit stattgefunden, bei der es darum gehe, die Rolle des Parlamentarismus zu schwächen und die des Ministerpräsidenten zu stärken.
Zu seiner subjektiven Bewertung dieses Prozesses führte Balog
an, dass eine Änderung in den Grundstrukturen nicht in
verfassungsrechtlicher Dimension zu fassen sei, vielmehr sei es in
seiner politischen Dimension zu erklären. Diese
umschließe zum einen die "Präsidentionalisierung" der
Politik, die Verstärkung der Exekutive und die
Machtverschiebung zugunsten des Ministerpräsidenten.
Dabei sei wichtig zu erkennen, dass die
"Präsidentionalisierung" der Politik auch eine
Personalisierung des Wahlkampfes beinhalte, und er führte dies
treffend aus: "Auch wir haben eine Amerikanisierung der Politik mit
ungarischem Lokalkolorit."
Balog hob hervor, dass all diese parlamentarischen Prozesse zwar das Bild einer Normalität geschaffen hätten, doch widerspreche dies dem gesellschaftlichen Klima und dessen Wahrnehmung: "Die Gesellschaft ist unzufrieden." In Ungarn mehr als in anderen Ländern stelle sich nach wie vor die Frage: "Wer besiegt wen?" Seit 20 Jahren würden die Kämpfe der Wende noch immer gekämpft. Seiner Meinung nach ist dies legitim: "Zum Teil geschieht das auch mit Recht, weil in vielen Fragen oft noch keine Entscheidung da ist."
Professor Oberreuter hatte ganz zu Anfang treffend festgestellt,
dass sich die beiden Länder Ungarn und Lettland in Fragen des
Parlamentarismus vor allem darin unterscheiden: "Ungarn hat zu
wenig und Lettland zu viel."