In der gemeinsamen öffentlichen Anhörung der Europaausschüsse von Bundestag und Bundesrat am 26. und 27. August 2009 herrschte unter den Sachverständigen Uneinigkeit um einen Vorbehalt zum Vertrag von Lissabon. Prof. Dr. Dietrich Murswiek von der Universität Freiburg sprach sich klar für eine zusätzliche Erklärung der bei der Ratifizierung des Vertrages aus. Um Konflikte zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof (EuGH) zu vermeiden, müsse ein Protokoll oder ein Vorbehalt angebracht werden. Nur so könnten mögliche Widersprüche zwischen völkerrechtlichen Verpflichtungen und solchen nach dem Grundgesetz vermieden werden.
Deutlich dagegen argumentierte Prof. Dr. Franz C. Mayer von der Universität Bielefeld: „Das geht einfach nicht.“ Es sei völkerrechtlich nicht zulässig. Hinzu komme, dass es mit dem Vorlageverfahren bereits ein Instrument zur Klärung möglicher Konflikte zwischen nationalen Gerichten und dem EuGH gebe. Bereits gestern hatte sich Prof. Dr. Christian Callies von der Freien Universität Berlin gegen einen Vorbehalt ausgesprochen.
Hintergrund des Streits: Das Bundesverfassungsgericht hat den Vertrag von Lissabon „nach Maßgabe der Gründe“ seiner Entscheidung für verfassungskonform erklärt. Juristen streiten nun darüber, ob die Bundesregierung verpflichtet ist sicherzustellen, dass der Vertrag nur in der Auslegung für Deutschland verbindlich wird, die sich aus den Urteilsgründen ergibt.
Nachdem am 26. August Details zum Integrationsverantwortungsgesetz und zum Zusammenarbeitsgesetz (Bundestag und Bundesregierung) besprochen worden waren, lag der Schwerpunkt der ersten Fragerunde am 27. August auf dem Gesetz zur Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen und der FDP „begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken“, sagte Prof. Dr. Ingolf Pernice von Humboldt-Universität; dies gelte auch für die als Anlage geplante Bund-Länder-Vereinbarung. Diese Einschätzung teilten Prof. Dr. Franz C. Mayer und Prof. Dr. Matthias Ruffert von der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Gegenstand der Anhörung waren fünf Gesetzentwürfe, die der Umsetzung des Vertrags von Lissabon im Anschluss an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 (Aktenzeichen 2 BvE 2/08) dienen. In diesem Urteil erklärte das Gericht das so genannte Begleitgesetz für teilweise verfassungswidrig, weil Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat am europäischen Integrationsprozess nicht hinreichend ausgestaltet worden waren. Gleichzeitig hatten die Karlsruher Richter konkrete Vorgaben für die Ausgestaltung eines neuen Gesetzes gemacht und die Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde vom Inkrafttreten dieses Gesetzes abhängig gemacht.
Neben dem Integrationsverantwortungsgesetz ( 16/13923) berät der Bundestag das Gesetz zur Umsetzung der Grundgesetzänderungen für die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon ( 16/13924). Die künftige Zusammenarbeit zwischen Bundestag und Bundesregierung in EU-Fragen wird in einem weiteren Gesetz ( 16/13925) geregelt. Diese drei Entwürfe sind von CDU/CSU, SPD, FDP und den Grünen eingebracht worden.
Ein vierter Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD und FDP enthält die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union sowie in der Anlage eine Bund-Länder-Vereinbarung ( 16/13926). Einen fünften Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes ( 16/13928) hat die Fraktion Die Linke vorgelegt. Darin fordert sie unter anderem, dass bei Vertragsänderungen ein Volksentscheid vorgenommen werden muss. Zudem möchte die Linksfraktion im Grundgesetz verankern, dass die Bundesregierung an Stellungnahmen des Bundestages prinzipiell gebunden ist.
In der Anhörung am 26. August hatte der überwiegende Teil der Sachverständigen für Staats- und Europarecht die Begleitgesetze für grundsätzlich verfassungskonform erklärt. Allerdings gebe es bei einigen Details Klarstellungs- und Nachbesserungsbedarf. Die Professoren Christian Callies und Franz C. Mayer vertraten die Ansicht, mit den Entwürfen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen sei eine verfassungskonforme Grundlage geschaffen worden, um die vom Gericht angemahnte Integrationsverantwortung erfüllen zu können. Das so genannte Integrationsverantwortungsgesetz setze die zwingenden Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in „verfassungskonformer“ (Callies) und „eindeutiger“ (Mayer) Weise um.
Dem folgten Prof. Dr. Jürgen Schwarze von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Prof. Dr. Matthias Ruffert. Der Ratifizierung stehe nun nichts mehr im Weg. Im Detail gebe es Klarstellungsbedarf, der allerdings nicht die Verfassungskonformität generell in Frage stelle.
Kritischer äußerte sich Prof. Dr. Armin von Bogdandy vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht: Das Gesetz reiche „im Prinzip“ aus, könne aber mögliche neue verfassungswidrige Regelungen enthalten. Bogdandy verwies auf das Weisungsrecht des Bundesrates beim „Notbremseverfahren“ und auf die Regelungen zum Ablehnungsrecht der nationalen Parlamente bei so genannten Brückenklauseln.